„Den Geist von Sarajevo erhalten“

Eine Rede des religiösen Oberhaupts der bosnischen Muslime sorgte für Furore / Nach einer Polizeiaktion gibt es nun auf dem Markt wieder Schweinefleisch, und in den Kneipen fließt der Alkohol  ■ Aus Sarajevo Erich Rathfelder

Schon gleich beim ersten Zusammentreffen in der Nähe des Post-, Telefon- und Telegraphengebäudes, dort, wo die Passagiere der „May be“-Airlines, der Transportflugzeuge des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, vom Flughafen kommend eintreffen, gerät die junge Frau vor Aufregung außer Atem. Aida Alibagić, in Sarajevo aufgewachsen und Kennerin der Stadt, ist wütend. Und wenn sie das ist, kräuseln sich nicht nur ihre Lippen, ihr ganzer Körper beginnt zu beben. „Jetzt kommen die Journalisten und wollen etwas über den islamischen Fundamentalismus schreiben, während an allen Fronten und in Bihać die Leute sterben. Na bitte, aber mir geht diese Kampagne, wie sie in Le Monde angefangen hat, auf den Wecker.“ Die französische Tageszeitung hatte im September unter dem Titel „Das Ende des bosnischen Traums“ über islamistische Tendenzen in Sarajevo berichtet.

Aida Alibagić beruhigt sich und lacht erst wieder, nachdem sie scherzhaft als eine typische „Mudschaheddin“ aus der bosnischen Hauptstadt bezeichnet wird. „Ja, das bin ich, 27 Jahre alt, Jura und Sprachen habe ich studiert, mein Max, mein Freund, ist Katholik, der kämpft gerade am Berg Igman gegen die Truppen der serbischen Nationalisten.“ Und wenn ihr irgend jemand vorschreiben wolle, wie sie zu leben habe, dann werde sie „äußerst fundamentalistisch“. Dies solle sich mal jemand erlauben.

Und somit sind wir schon mitten im Thema. Denn das Oberhaupt der islamischen Glaubensgemeinschaft, der Reis-ul-Ulema Mustafa Cerić, hatte in einem aufsehenerregenden Interview mit der in Sarajevo erscheinenden Wochenzeitung Bosna vom 26. September 1994 seine Aussagen einer früheren Rede erneuert. Damals hatte sich Cerić, zwar in vorsichtiger Form, doch immerhin deutlich, gegen die Mischehen von Muslimen mit Partnern aus anderen Glaubensgemeinschaften ausgesprochen. Außerdem zeigte er sich erbost über den Verkauf von Schweinefleisch auf dem Markt von Sarajevo. Zudem, so wurde kolportiert, habe er den Ausschank von Alkohol aufs Korn genommen. Summa summarum: auch wenn die Rede des Oberhauptes der Muslime Bosniens verkürzt oder nur unkorrekt wiedergegeben wurde, der Eindruck blieb, Mustafa Cerić mische sich zu sehr in die Angelegenheiten der Gesellschaft und des Staates ein, selbst wenn er nur für die Muslime gesprochen hatte.

Dies löste einen Sturm der Entrüstung in Sarajevoer wie in ausländischen Medien aus. Während die internationale Presse diesen Vorgang als „Islamisierung der Gesellschaft“ interpretierte, warnten die kritischen Geister von Sarajevo vor den totalitären Tendenzen, die dann sichtbar würden, wenn die Aussagen des Mustafa Cerić entsprechende Auswirkungen auf die staatliche Politik nach sich zögen.

„Nicht einmal Mustafa Cerić kann mir verbieten, meinen Max zu heiraten.“ Aida ist schon wieder wütend. „In Sarajevo haben sich schon immer alle miteinander vermischt, das macht ja gerade Sarajevo aus.“ Und sie beruhigt sich erst wieder, als vorgeschlagen wird, ins Café Lora an der Marschall-Tito-Straße zu fahren.

„Alles Quatsch mit dem Alkoholverbot“, sagt der Taxifahrer, der sich auf der breiten Straße der proletarischen Brigade bemüht, nicht schneller als 60 zu fahren. „Stellen Sie sich vor, seit neuestem wird ausgerechnet hier von der Polizei geblitzt.“ Und er beschleunigt erst, als wir die sogenannte „Scharfschützenallee“ erreichen. Seit hier wieder öfter geschossen wird, hat es schon einige Tote gegeben, so daß selbst die Sarajevoer Stadtpolizei nichts gegen Tempo 100 auf dieser Strecke einzuwenden hat. Schnell fahrende Autos sind einfach schwer zu treffen.

Das Café Lora liegt in einem kleinen Hinterhof, wo die eng aneinanderstehenden Häuser seit Beginn des Krieges Schutz vor den Granaten bieten. Schon am frühen Nachmittag herrscht reges Treiben. Von dem angeblichen Alkoholverbot ist nichts zu bemerken. Es gibt Bier, Schnaps, Cognac und die international üblichen Alkoholika von Gin bis Whiskey. „Wegen der Belagerung war der Alkohol zeitweise sehr knapp und teuer geworden, es kam ja nichts rein, zur Zeit ist es wieder besser“, erklärt der Wirt. „Aber mit Religion oder so was hat die zeitweilige Alkoholknappheit nichts zu tun gehabt.“

Von der Marschall-Tito-Straße kommend, schieben sich die Menschen in die Altstadt hinein. In den engeren Straßen herrscht an diesem Nachmittag dichtes Gedränge. Auch das Restaurant Ragusa – so lautet der historische Name von Dubrovnik – ist schon voll besetzt. „Wer Geld hat oder von Verwandten und Freunden welches geschickt bekommt, versucht eben zu leben“, erklärt der Besitzer fast etwas entschuldigend.

Dem bärtigen Mittvierziger mit dem verlebten Gesicht ist anzusehen, daß er – zumindest in früheren Jahren – die Feste gefeiert hat, wie sie gefallen sind. Und obwohl er seit ein paar Monaten von sich behauptet, „religiös zu sein“, trinkt er munter ein Schnäpschen mit. „Was wollt ihr wissen? Ob es Schweinefleisch gibt?“ Er klatscht in die Hände und läßt die Ober springen. Schon nach kurzer Zeit stehen Schnitzel auf dem Tisch. „Ich esse zwar kein Schweinefleisch mehr, aber andere können meinetwegen jeden Tag Schweinefleisch essen.“

Auch auf dem Markt ist das Gedränge groß. Nicht nur zwischen jenen Ständen im Freien, wo im Februar eine Artilleriegrante über 60 Menschen zerfetzte, auch innerhalb der alten Markthalle versuchen viele Menschen, irgend etwas zu ergattern. An dem ersten Fleischstand werden Rind- und Hammelfleisch zu Preisen zwischen 18 und 30 Mark pro Kilo angeboten. Schweinefleisch ist aber nicht darunter. Die Verkäuferin reagiert etwas gereizt. „Sie sind schon der dritte Reporter, der nach Schweinefleisch fragt. Haben Sie denn nichts anderes zu schreiben, gerade jetzt, wo die Leute in Bihać beschossen werden?“

Doch schließlich bequemt sie sich preiszugeben, daß Ende September Polizisten auf dem Markt auftauchten, die das Schweinefleisch beschlagnahmten. „Es gab damals viel Schweinefleisch, wir hatten ja auch noch Rindfleisch, und wir haben wegen des Strommangels Schwierigkeiten mit der Kühlung. Jetzt sollen wir Schweinefleisch getrennt von dem anderen Fleich halten, weil es für die Muslime unrein ist.“ Und sie deutet auf die Stände am Ende des Ganges. „Dort gibt es welches.“

Und tatsächlich ist an diesen Ständen Schweinefleisch für 16 bis 25 Mark pro Kilo zu haben. Schließlich findet ein agiler Verkäufer etwas Zeit, um über das Thema zu sprechen. „Als damals der Krach war, hatte ein Händler, übrigens ein Muslim, 6.000 Kilogramm Schweinefleisch importiert.“ Die Ware gelangte durch einen Tunnel unter dem Flughafen nach Sarajevo, der die belagerte Stadt seit Sommer 1993 mit Restbosnien verbindet. „Ich glaube, Mustafa Cerić war sauer, weil das Schweinefleisch billiger war als das Rindfleisch und deshalb sogar von den Muslimen gekauft wurde. Außerdem war es nicht gelungen, während des Bajramfestes genügend Hammelfleisch in die Stadt zu bringen.“ An dem wichtigsten muslimischen Feiertag wird traditionell frisches Lammfleisch gegessen.

„Versteh mich nicht falsch“, sagt ein zufällig vorbeikommender befreundeter Journalist der Wochenzeitschrift Dani draußen auf der Straße, „das Schweinefleisch an sich ist nicht wichtig. Entscheidend an der ganzen Sache ist, daß nach der Rede von Cerić die Polizei auf die Idee kam zu handeln und das Schweinefleisch für drei Tage vom Markt nahm.“ Warum denn eigentlich? „Wir vermuten zwei Dinge: erstens gibt es eine Konkurrenz unter den Importeuren, und die Rindfleischimporteure waren in Gefahr, auf ihrer Ware sitzenzubleiben.“ Der Markt sei ja begrenzt, weil nur wenige Geld für Fleisch ausgeben könnten. „Aber wichtiger noch ist der zweite Aspekt“, fügt er hinzu. „Durch die Rede wurde eine politische Atmosphäre geschaffen, in der die Polizei handelte. Die meinte offenbar, wenn Cerić den Import von Schweinefleisch kritisiert, dann müßte eben etwas getan werden, und das repräsentiert totalitäres Denken.“ Ob es eine direkte Anweisung von oben gegeben habe, wisse er aber nicht.

Im Hause des Erzbischofs, des kürzlich zum Kardinal erhobenen Vinko Puljić, ist man ähnlicher Meinung. „Die Atmosphäre bei den Muslimen hat sich mit der Rede von Mustafa Cerić schon etwas geändert“, erklärt Dubravko Lovrenović, ein angesehener Historiker und Spezialist für die mittelalterliche Geschichte Bosniens. Auch der Kardinal selbst, der an sich mit dem Oberhaupt der Muslime freundschaftlich verbunden ist, findet kritische Worte. „Solche Reden tragen die Gefahr in sich, Intoleranz zu säen.“ Das gelte auch für den zunehmend propagierten Arabischunterricht in den Schulen. Es müsse sorgsam darauf geachtet werden, daß der Geist der Toleranz, der Sarajevo bisher auszeichnete, erhalten bliebe. Für den Kardinal und Dubravko Lovrenović ist entscheidend, wie der Staat sich in solchen Konflikten verhält: „Der Staat muß über den Dingen stehen.“

Daß es bezüglich der Aktion der Polizei, das Schweinefleisch vom Markt zu nehmen, einen Wink von oben gegeben haben könnte, möchte Enver Kresco, Mitglied des Präsidiums der muslimischen Partei der demokratischen Aktion, die in der Regierung vertreten ist, in der nahe gelegenen Parteizentrale nicht kommentieren. Der sich noch etwas in der Starrheit kommunistischer Parteifunktionäre ausdrückende Politiker spielt das ganze Problem herunter. „Staat und Religion sind getrennt, Mustafa Cerić kann nur die Muslime auffordern, nach den Regeln ihrer Religion zu leben, sonst aber kann er niemandem seine Ideen auferlegen.“ Ein Verbot, Schweinefleisch zu importieren oder zu essen, gäbe es nicht. „Die Regierung hat so etwas niemals in Erwägung gezogen.“

Ivo Komsić, der als Mitglied des Staatspräsidiums die Interessen der zentralbosnischen Katholiken – also der Kroaten – in der politischen Führung vertritt, sieht dagegen wohl Tendenzen einer politisch-ideologischen Formierung unter den Muslimen. „Bisher hat die bosnische Regierung aber überparteilich reagiert“, sagt der kleine und agile Vorsitzende der Kroatischen Bauernpartei. Angesichts der kroatisch-bosnischen Föderation wäre es ohnehin schwer, den Staat für eine Islamisierung der Gesellschaft zu funktionalisieren. Der Arabischunterricht erfolge wie der Englischunterricht auf freiwilliger Basis. Allerdings sei es fraglich, ob Arabisch als Sprache schon in der Grundschule angeboten werden müsse. „Mit der Entwicklung der militärischen und humanitären Situation haben wir jedoch ganz andere und gravierendere Sorgen“, meint Komsić. „Wie sollen wir die Menschen durch den Winter bringen?“

Inzwischen ist es dunkel geworden. Auf der Vase-Miskina-Straße kommen uns Mädchen entgegen, die Kopftücher umgelegt haben. „Endlich habt ihr eure Fundamentalistinnen.“ Aida blickt herausfordernd um sich. „Wir gehen jetzt direkt ins Zentrum der Islamisierung, der Koranschule, und fragen dort nach.“

Auf dem Schulhof stehen Mädchen und Jungen zwischen 16 und 18 Jahren in einer Gruppe beieinander. „Die Fernsehjournalisten haben uns nur Schlechtes gebracht“, beklagt sich eine der jungen Kopftuchfrauen. „Die nehmen uns auf, und am Abend können wir uns im serbischen Fernsehen ansehen. Das bringt uns nur in Gefahr. Ja, ich bin wie die anderen 300 Schülerinnen religiös. Das heißt doch aber nicht, daß wir anderen unsere Religion und unseren Lebensstil aufdrücken wollen.“ – „Wir bosnischen Muslime wollen mit den anderen zusammenleben“, fällt ihr ein Mitschüler ins Wort. „Wenn Mustafa Cerić das Schweinefleisch für alle verboten hätte, was er nicht getan hat, dann wären wir dagegen. Das würde gegen den Geist unserer Religion, so wie wir sie verstehen, verstoßen.“