Nachschlag

■ Ganz Alltägliches aus Sarajevo im Literaturhaus

Je näher der Sieg von Karadžićs Mörderbanden in Bosnien rückt, desto lauter wird das „differenzierende“ Getöse in Europa, das zu seiner eigenen Rechtfertigung entdeckt, daß Bosnien ja sowieso nicht die perfekte Multikulti-Gesellschaft gewesen sei, die „Islamisierung Sarajevos“ fortschreite und innerhalb der bedrohten Stadt nicht eitel Brüderlichkeit herrsche. Fazit: Da man also von Sarajevo nichts mehr lernen könne, könnten die Menschen dort auch ruhig verrecken, wo im „Hexenkessel Balkan“ doch sowieso alles „undurchschaubar“ sei.

Das Literaturhaus in der Fasanenstraße stellte am Freitag abend vier bosnische Intellektuelle (die Literaturwissenschaftlerinnen Dana Main-Rudović und Alida Bremer sowie die Schriftsteller Davor Korić und Dzemaludin Alić) vor, die mit ihren Lebensgeschichten all die gängigen Mystifizierungen und anschließenden Entwertungen ad absurdum führten. Sarajevo ist kein Symbol, sondern eine Stadt, in der jeden Tag Menschen sterben; und die Namen der dafür Verantwortlichen sind bekannt. „Dieser Krieg läßt sich sehr wohl analysieren“, sagte Alida Bremer, „und es ist ein Verbrechen, Angreifer und Angegriffene immer wieder in einen Topf zu werfen.“

Der Dramatiker und Drehbuchautor Davor Korić las Briefe, die er 1993 aus Sarajevo an seine Frau in Münster geschrieben hatte. Ihre Alltäglichkeit konnte freilich nur jene enttäuschen, die für ein Engagement noch immer tragische Erweckungserlebnisse benötigen und Menschen überhöhen müssen, ehe sie sich für sie einsetzen. Denn diese Briefe boten so gar nichts intellektuell oder philosophisch „Ergiebiges“. Sie berichteten „nur“ von der Angst eines Mannes, seine Frau nie wieder sehen zu können, aufgrund der Kälte zu erfrieren oder in den Straßen der Stadt serbischen Heckenschützen zum Opfer zu fallen. Außer der Sehnsucht, als normaler Mensch in einer normalen Stadt leben zu können, gab es keinerlei tiefere Botschaften. Niemand in dieser Runde litt an Selbstüberschätzungen: Literatur, so der Konsens, käme in dieser Zeit nicht zustande, bestenfalls Dokumentarprosa, Appelle, private Aufzeichnungen.

„Wie sähe“, fragt sich Botho Strauß unter dem Beifall seiner zivilisationsmüden Jünger, „mein protziger Nachbar aus, wenn ihn der jähe Schmerz träfe? Vielleicht träte zum Vorschein dann seine Würde.“ Die anwesenden Autoren wußten es besser, erzählten, wie der Krieg entzweit, bösartig macht, auch Ressentiments zwischen Freunden nährt. Man stritt sich auf dem Podium über nicht anwesende Lyriker, ihr Verhalten oder Fehlverhalten, und für manchen Zuhörer ging da wohl der Mythos Sarajevo endgültig in Scherben. Eine Stadt gerade wegen ihrer Alltäglichkeit militärisch zu verteidigen, anstatt ihr Martyrium folgenlos zu preisen, dafür müßten wohl in Europa erst einmal einige quasi- religiöse Reinheitsvorstellungen zugunsten zivilisatorischer Bewertungskategorien abgelöst werden. Ein Krieg ist keine Debatte. Marko Martin