■ Scheibengericht
: Lichtspielscenen

„Drohende Gefahr – Angst – Katastrophe“ heißt der schicksalhafte Dreischritt, der das dramaturgische Rückgrat jeglichen adrenalintreibenden Films bildet. Wären sie nicht in allen Belangen alltäglichen Lebens hemmungslos beschworen und verschlissen, könnten diese dürren Worte selbst phantasielosere Gemüter zur Assoziation einer kleinen blutrünstigen Geschichte anregen, denn auf dieses dramaturgische Muster ist jeder Teilnehmer unserer Kultur hinreichend konditioniert. Was sonst als untrügliches Merkmal musikalischen Banausentums gilt, nämlich sich beim Hören symphonischer Musik von seinen Gedanken ein wenig spazierenführen zu lassen (während es draußen Kontrapunkt und Formenlehre gewittert), trifft bei Schönbergs „Begleitmusik zu einer Lichtspielscene“ nicht ganz am Kern vorbei. Einerseits. Denn tatsächlich ist diese Musik für das Kino geschrieben. Und sollte ganz praktisch („funktional“ heißt das Schmähwort in Fachkreisen) dazu dienen, die geisterhafte Stille des Stummfilms zu verscheuchen, sollte passende Gefühle erregen, leiten und zuspitzen und die Szenen miteinander organisch verbinden.

Andererseits hat sie diese Funktionen nie erfüllt, denn zu Schönbergs Lebzeit ist sie im Film nicht verwendet worden. Daß eine Musik ohne konkretes Projekt entstand, ist nicht weiter ungewöhnlich, denn der Bedarf war so immens, daß auf Vorrat komponiert wurde und die Musik unter Situationsarchetypen abgelegt wurde. Man höre also die Begleitungsmusik getrost als imaginären Film, sie gibt es her. Selbstverständlich kommen die genretypischen Klischees nicht vor. Schönberg ist wohl der ungekrönte Meister der Hysterie. Für die „drohende Gefahr“ entfaltet er eine ungeahnt reiche Palette an unheilvollen Vorgefühlen, beschworen durch ganz ausgezeichnete Instrumentationsideen, etwa die Kombination von leisem Wirbel der großen Trommel mit gedämpften Trompeten. Auch die „Katastrophe“ ist das ganze Gegenteil des gewöhnlich abgeladenen Bombasts, der in der Regel die Posaunen von Jericho in den Schatten zu stellen trachtet, um ja eindringlich zu sein. Schönberg verlagert den Schrecken ins Leise, ins Untergründige, verpflanzt das Entsetzen unter die Haut, wo es um so wirkungsvoller den kalten Schweiß treiben kann.

Schönberg: „Die Jakobsleiter“, Kammersymphonie Nr. 1, Begleitmusik zu einer Lichtspielscene. Boulez.