■ Scheibengericht
: Ersatzmutterlos

Für unbegleitete Violine ist wenig geschrieben worden. Eigentlich erstaunlich, da sie doch nach dem Klavier als das Virtuoseninstrument schlechthin gilt. Neben einigen barocken Vorläufern setzte Bach mit seinen heute noch berüchtigten Sonaten und Partiten einen himmelhohen Standard, an dem jeder Lehrling der Geigenkunst gerne verzweifelt. Auch kompositorisch kommt dann erst mal lange nichts (Paganini, als Spieler der Jahrhundertbeste, komponierte nur in der Kreisliga, wiewohl seine Capriccien das beste sind, was er geschrieben hat), und erst Anfang unseres Jahrhunderts erkundet Max Reger wieder das Genre – und greift gehörig in des Ahnen Schatztruhe.

Zwar bezieht sich auch Bela Bartók deutlich auf Bachs Violinsonaten, doch greift er nicht in der harmonischen Ideomatik auf die bewährten Modelle zurück, sondern in der Wahl der Formen, die doch stets neu gefüllt werden müssen. Kompositionen für „Violine allein“ ist eine für alle Beteiligten anstrengende Angelegenheit, insbesondere wenn das Instrument gezielt überfordert wird. Zum Beispiel durch mehrstimmiges Spiel, wie es für die Chaconne gäbe und für eine Fuge unabdingbar ist. Das entspricht ungefähr dem Versuch eines Malers oder Fotografen, mit seinem zweidimensionalen Medium eine räumliche Wirkung zu erzielen. Es geht, aber nur mit Tricks. Mit konventionellen Mitteln ist es nicht möglich, mehr als zwei Stimmen (und auch die nicht unabhängig voneinander) faktisch gleichzeitig klingen zu lassen. Daher behelfen sich Komponist und Spieler mit der Imagination des Hörers. Der Trick des Spielers: Er reißt die Töne mit etwas Gewalt an, so daß sich die äußerst flüchtige Klangmaterie dem Hörer ins Ohr stanzt und so lange nachhallt, bis weitere Töne der jeweiligen Stimme nachgereicht werden. Ein Jongleur hat es einfacher, denn seine Bälle bleiben länger in der Luft als ein Ton in der Geige. Der Trick des Komponisten: Das Thema der Fuge so löchrig konzipieren, daß die Überlagerung der Stimmen ein zusammenhängendes Gewebe ergibt. So macht man Fugen. Der Gewinn für den Hörer: Die Anteilnahme an einem Akt, das Unmögliche wahr zu machen.

Allerdings besteht Bartóks Sonate nicht nur aus verzweiflungsträchtiger Mehrstimmigkeit. In der „Melodia“ tritt ein Zug der Sololiteratur zutage, der vielleicht als Motiv der Moderne hilft, dieses Genre neu zu entdecken: die Einsamkeit des Subjekts. So ganz allein auf sich gestellt, ohne bergendes, hüllendes Klanggewebe eines Orchesters oder dessen Ersatzmutter, des Klaviers. Hier zeigt sich des jungen Geigers Christian Tetzlaffs Hauptstärke: das Alleingelassensein aushalten zu können. Er muß nicht die Leere der lauernden Stille mit fettem Vibrato bewältigen, wie das pfeifende Kind im dunklen Keller, und muß auch nicht mit hurtigen Tempi die Gefahrenzone verlassen, wie das angstvolle Kind schnell unter die Bettdecke hastet. Er leistet es sich gar, den Ton im vielfachen Pianissimo noch bis zum Rand auszudünnen, da, wo es endgültig bröckelig wird, und dort zu verweilen, daß es einen schaudert. Und wann schaudert es den abgekochten Mitteleuropäer heutzutage noch?

Bela Bartók: Sonate für Violine allein; Violinkonzert Nr. 2. Christian Tetzlaff, The London Philharmonic, Michael Giehlen. Virgin vc 791483.