Staatliches Wahrheitsmonopol?

Am 1. Dezember trat die Strafrechtsverschärfung zur „Auschwitz-Lüge“ in Kraft. Diese Verknüpfung von Geschichtspolitik und Gewaltmonopol ist ein Armutszeugnis für die Demokratie  ■ Von Horst Meier

Die Konjunkturen der deutschen Rechtspolitik sind schwindelerregend – zumal wenn sich „innere Sicherheit“ und demonstrative Vergangenheitsbewältigung verschränken. Die Jahrzehnte währenden untauglichen Versuche, die Bundesrepublik von der „Auschwitz-Lüge“ zu befreien, zählen zur Kategorie der hierzulande recht beliebten symbolisch- rituellen Gesetzgebung. Diese trumpft gern mit edler Gesinnung auf, ist regelmäßig ohne praktischen Gebrauchswert und verschafft das flüchtig-trügerische Gefühl, etwas entschlossen Gutes gegen die richtigen Leute getan zu haben: „innere“ Sicherheit. Kürzlich hat der Bundestag abermals einen solchen Vorstoß unternommen. Am 1. Dezember 1994 tritt eine Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen 130 in Kraft. Der angefügte Absatz 3 lautet: Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung der in § 220a Abs. 1 [= Völkermord] bezeichneten Art in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost.

Diese Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen, mit der erstmals das Rechtsgut der historischen Wahrheit statuiert wird, fand die fast einhellige Zustimmung des Parlaments. Darüber geriet erst gar nicht in den Blick, daß die politische Freiheit potentiell aller zur Disposition gestellt und das demokratische Selbstbewußtsein korrumpiert wird.

Die gratismutige Empörung über wirkliche oder eingebildete Skandale bleibt dem Geschäft der Tagespolitik verhaftet. Da ist es nützlich und ernüchternd, einen kurzen Blick in die Geschichte der einschlägigen Strafgesetzgebung zu werfen.

Die Propaganda von der „Auschwitz-Lüge“ ist fast so alt wie die Bundesrepublik. 1957 erregte der Fall des Hamburger Holzhändlers Nieland Aufsehen, der in einer antisemitischen Schmähschrift eine „Vergasungslüge“ behauptet hatte. Als es 1959/60 in Westdeutschland zu einer antisemitische Welle von Friedhofsschändungen kam und Hakenkreuze an Synagogenwänden auftauchten, wurde unter der Paragraphennummer 130, der einstigen „Anreizung zum Klassenkampf“, ein Tatbestand namens „Volksverhetzung“ formuliert. Er gilt im wesentlichen bis heute: Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er 1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt, 2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder 3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.

Daß Propagandadelikte die Meinungsfreiheit berühren, war zur Zeit der Volksverhetzungsnovelle von 1960 geläufiger als heute. Die verschiedenen sehr vage und kompliziert gehaltenen Arten der Volksverhetzung wurden daher jeweils als „Angriff gegen die Menschenwürde“ formuliert. Mit dieser Klausel, die jetzt für die ersten zwei Tatalternativen gestrichen wurde, wollte man eine allzu ausufernde Anwendung des neuen Gesetzes verhindern – ein Kalkül, das zugunsten von Neonazis aufging. Andererseits gab es Ende der siebziger Jahre (etwa im Gefolge des „Buback-Nachrufs“) Urteile, die die Polemik gegen „Teile der Bevölkerung“ wie Richter und Staatsanwälte bestraften, und manch eine „Soldaten sind Mörder“-Parole weckte amtlichen Verfolgungseifer: eine extensive Interpretation, die gewiß nicht mit den Motiven der Volksverhetzungsnovelle von 1960 in Einklang zu bringen ist.

Die Anwendungsprobleme des Volksverhetzungsparagraphen von 1960 gehen allerdings nicht allein auf das Konto verstockter Strafrichter: Denn die deutschen Juden, die erklärtermaßen vor Hetze geschützt werden sollten, wurden mit der Formulierung „Teile der Bevölkerung“ ganz bewußt nicht offen genannt. SPD- Juristen wie Adolf Arndt hatten seinerzeit davor gewarnt, mit einem Sondergesetz gegen den Antisemitismus ein höchst fragwürdiges „privilegium odiosum“ für die zu Schützenden zu statuieren, weil damit deren Diskriminierung in verdeckter Form fortgeführt werde. Und Hendrik van Dam, der damalige Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, verwahrte sich gegen die Absicht, ausgerechnet in Deutschland einen „strafrechtlichen Naturschutzpark“ für Juden anzulegen (vgl. Sebastian Cobler, „Das Gesetz gegen die „Auschwitz-Lüge“).

Unter dem Eindruck sich verstärkender Aktivitäten junger Neonazis forderte die SPD-Regierung 1982 ein besonderes Strafgesetz gegen die „Auschwitz-Lüge“, und zwar als Verschärfung des „Billigens von Straftaten“ (§ 140). Künftig sollte das „Billigen, Leugnen oder Verharmlosen“ des nationalsozialistischen Völkermordes verfolgt werden. Von der unionsgeführten Wenderegierung wurde dieser Entwurf zunächst übernommen, dann aber wieder fallengelassen. Nach einigem Hin und Her setzte man an einem althergebrachten Straftatbestand an und erklärte 1985 die Beleidigung nach § 185 in bestimmten Fällen zum Offizialdelikt. Das entsprach einer alten Forderung des Zentralrats der Juden – die allerdings auf den Kopf gestellt wurde: Denn der Staatsanwalt sollte dann auf den Plan treten, wenn der Beleidigte als Angehöriger einer Gruppe unter der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewalt- und Willkürherrschaft verfolgt wurde (vgl. § 194). Eine „andere Gewalt- und Willkürherrschaft“? Hinter dieser unscheinbaren Formulierung verbirgt sich die bösartige Konstruktion einer bis dahin nie gehörten „Vertreibungslüge“. Diese wurde unvermittelt von der CSU aufgebracht – wohl in der Absicht, ein als „einseitig“ empfundenes Strafgesetz zu Fall zu bringen. Die groteske Behauptung, es müsse auch das Vertreibungsschicksal der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten von Amts wegen geschützt werden, entsprang freilich just der Aufrechnungsmentalität, die man bei den Auschwitzleugnern zu strafen gedachte. Im Ergebnis betrieb der Gesetzgeber 1985 eben jene „Verharmlosung“, die er neuerdings zu kriminalisieren sich anschickt.

Mit den fremdenfeindlichen Mord- und Brandanschlägen der neunziger Jahre begann die vorläufig letzte Phase des Streits um den § 130. Die Diskussion ging parteiübergreifend zunächst dahin, den Paragraphen ganz allgemein gegen rassistische Propapanda zu verschärfen. Der Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge löste weitere hektische Aktivitäten des Gesetzgebers aus, die schließlich in die jüngste Novelle mündeten. Ein „Skandalurteil“ des Bundesgerichtshofs vom 15. März 1994 tat ein übriges. Ihm wurde vorgehalten, es stelle der Neonazipropaganda von der „Auschwitz-Lüge“ einen Freibrief aus – weil die Richter erklärt hatten, die bloße Leugnung des Holocaust stelle keinen „Angriff gegen die Menschenwürde“, mithin keine Volksverhetzung dar.

Diese Justizkritik geht fehl – nicht so sehr, weil sie sich auf juristische Detailprobleme der Volksverhetzung kapriziert, sondern weil sie das Mißverständnis nahelegt, erlaubt sei alles, was nicht als sogenannte „qualifizierte“, das heißt besonders gehässige „Auschwitz-Lüge“ unter den Volksverhetzungsparagraphen fällt. Tatsächlich jedoch ist die Leugnung des Holocaust als Beleidigung nach § 185 strafbar. Seit langem geht die Rechtsprechung davon aus, daß die in Deutschland lebenden Juden als Kollektiv vor Beleidigungen geschützt sind. In einem seinerzeit viel gelobten Urteil aus dem Jahre 1979 stellte der Bundesgerichtshof zudem ausdrücklich klar, daß diese Kollektivbeleidigung auch in Gestalt der Neonazipropaganda von der „Auschwitz-Lüge“ begangen werden kann – weil die Leugnung des Verfolgungsschicksals die Ehre aller Gruppenmitglieder kränkt. Seit 1985 sind solche Beleidigungen auch von Amts wegen zu verfolgen. Dasselbe gilt schon seit 1960 für die „Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener“ nach § 189, der das Andenken der von den Nazis Ermordeten einschließt. Damit ist das Persönlichkeitsrecht der Naziopfer und ihrer Nachkommen hinreichend geschützt – soweit dies durch Strafgesetze überhaupt möglich ist. Wer ungeachtet dessen eine strafrechtliche „Lücke“ beschwört, kann sich für weitergehende Eingriffe in die Meinungsfreiheit jedenfalls nicht auf den Schutz der Geschmähten berufen.

Es gibt freilich den Einwand, die ganze einschlägige Neonazipropaganda sei gar kein Problem der Meinungsfreiheit. So einfach ist die Sache aber nicht. Das Verfassungsgericht hat kürzlich, am 13. April 1994, in Sachen „Auschwitz-Lüge“ eine Entscheidung gefällt, die den Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht differenziert herausarbeitet und pragmatisch löst. Die Richter hatten sich mit einer NPD-Veranstaltung in München zu befassen, auf welcher der revisionistische Historiker David Irving auftreten sollte. Der Veranstalterin war von der Stadtverwaltung die Auflage erteilt worden, beleidigende oder volksverhetzende, „mithin „strafbare Redebeiträge“ (!) zu verhindern. Auf der Suche nach einer etwaigen Grundrechtsverletzung fragten die Verfassungsrichter: „Ist das Leugnen des Holocaust überhaupt eine Meinung“? und befanden: für sich genommen nicht. Was aber, wenn sich die Behauptung „erwiesen falscher Tatsachen“ mit einer politischen Meinungsäußerung untrennbar verbindet, wie es bei den Revisionisten der Fall ist? Diese Verbindung, so die Verfassungsrichter, fällt zwar noch in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit, muß jedoch regelmäßig hinter dem Persönlichkeitsrecht der Geschmähten zurücktreten – als Meinungsäußerung zweiter Klasse sozusagen. Das ist im Ergebnis unproblematisch, zumal die Meinungsfreiheit durch das „Recht der persönlichen Ehre“ in der Verfassung selbst ausdrücklich eingeschränkt ist (vgl. Artikel 5 Absatz 2 Grundgesetz).

Strafgesetze hingegen, die über den herkömmlichen Schutz der persönlichen Ehre klar hinausgehen, wie jetzt mit dem Begriff des „Verharmlosens“ geschehen, unterdrücken weitere Teilbereiche der politischen Kommunikation und tangieren das Grundrecht der freien Rede (in zweiter Linie auch das der Wissenschaft). Die unbestimmte Vielzahl der „Verharmlosungsfälle“ kann nicht als eine Kränkung der Naziopfer eingestuft werden. Dies wird geflissentlich übersehen, weil hierzulande die Versuchung groß ist, zu autoritären Maßnahmen zu greifen, auf daß der brüchige Konsens in Sachen NS-Vergangenheit nur nicht von Neonazis gestört werde. Wer rationalen Rechtsgüterschutz im Sinn hat, wird allein die persönliche Ehre der Naziopfer und ihrer Nachkommen in Betracht ziehen, keineswegs aber ein „richtiges“, vom Staat verwaltetes Geschichtsbild – und erscheine dieses noch so evident. Im Laufe der Zeit werden auch gesichert geglaubte, „erwiesen wahre“ historische Tatsachen zum Problem. Die jüngsten Schwierigkeiten, die Zahl der in Auschwitz Vernichteten zu bestimmen, sind dafür ein Beispiel.

Historisches Wissen besteht zudem nicht aus reinen Fakten. Mit der Festschreibung von Geschichte geht immer auch eine Interpretation der Vergangenheit, ein bestimmtes Geschichtsverständnis einher. Sobald also Polizei und Justiz ermächtigt werden, eine wie auch immer definierte historische „Wahrheit“ gegen Zweifel zu verteidigen, sind rechtsstaatliche Prinzipien und demokratische Freiheitsrechte gefährdet. Die Verknüpfung von Geschichtspolitik und Gewaltmonopol ist anmaßend totalitär und ein Armutszeugnis für die Demokratie. Ein Volk, das Hitler zu Lebzeiten nicht austrieb, sollte sich heute wenigstens darauf verstehen, papiernen Lügen verstörter Agitatoren entgegenzutreten, ohne indigniert nach dem Staatsanwalt zu rufen. Es ist kein Zufall, daß gerade jene, die dem Vernichtungsprogramm entkamen, sich solch Aufgeregtheiten enthalten. So hat Ruth Klüger, die Auschwitz überlebte, auf die Frage nach der Lügenpropaganda geantwortet, sie fände „grundsätzlich problematisch, Meinungsäußerungen, die nicht direkt zu einer Straftat auffordern, unter Strafe zu stellen“. „Strafprozesse sind kein Mittel der Aufklärung, sondern der Überführung“, pointierte Sebastian Cobler seine Kritik des juristischen Exorzismus. Wer bei jeder Gelegenheit Strafgesetze einklagt, bekommt am Ende nichts Besseres als Strafjustiz und wird wenig Freude daran haben – da braucht es nicht erst ein Deckert-Urteil aus Mannheim.

Horst Meier lebt als Autor in Hamburg.

Den gekürzten Text entnehmen wir dem Dezemberheft des Merkur.