Akten gegen DDR-Nostalgie

■ Die Gauck-Behörde erinnerte an die Stasi-Auflösung

Berlin (taz) – Vor fünf Jahren trugen die Menschen die Transparente durch die Straßen, heute hängen sie in luftiger Höhe im Preußischen Landtag. „Für Reformen unsere Kraft – Stasi in die Volkswirtschaft“ ist auf ihnen zu lesen, der Bürgerprotest von damals fand aber auch in Parolen wie „Rechtssicherheit statt Staatssicherheit“ oder „Die Jugend geht, das Land wird kahl – wie fordern endlich freie Wahl“ seinen Ausdruck. Im Berliner Abgeordnetenhaus wird am Samstag des „Aufbruchs im Herbst“ gedacht. Die eintägige Veranstaltung – ein Festakt mit Prominenz und abendlicher Talkrunde inclusive – ist eine „Reverenz an Bürgermut und Widerstand 1989“, ausgerichtet von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen.

Der Andrang ist groß: Mitarbeiter der Behörde beraten, wie Anträge zur Akteneinsicht auszufüllen sind, Musterakten der Stasi können eingesehen werden, Opferverbände wie „Help“ informieren über ihre Arbeit. Im Multivisionsraum entlarven Schulungsfilme der Stasi den einstmals so geheimen wie drögen Alltag in Mielkes Spitzelministerium, zwei Etagen höher fordert fünf Jahre nach dem Fall der Mauer die „Zentrale Ermittlungsstelle für die Verfolgung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität“ weiterhin Bürgerinnen und Bürger auf: „Zeigen sie auch 1994 Bürgermut.“ Überfüllt sind auch am Nachmittag die Diskussionsforen, die sich der Entmachtung der Staatssicherheit und der Entwicklung der Opposition in der DDR widmen.

In Leipzig richtet zur gleichen Zeit das „Bürgerkomitee für die Auflösung der Staatssicherheit“ anläßlich des fünften Jahrestages der Besetzung des Stasi-Gebäudes ein Seminar aus. Die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth ließ den Veranstaltern dort ein Grußwort zukommen, in Berlin dagegen wollte sie anwesend sein – der Nebel über dem Züricher Flughafen verhinderte dies aber. So ist dann ihre Amtsvorgängerin Annemarie Renger da, die ihre vorformulierte Rede vorträgt und damit schnell zum Kern der derzeit laufenden Debatte um die Vergangenheitsbewältigung kommt: „Natürlich gibt es auch diejenigen, die gegen die Öffnung der Archive sind. Ihnen sage ich: Der Wunsch nach einem Schlußstrich ist psychologisch verständlich. Aber wir wissen auch: Vergangenheit läßt sich nicht einfach beiseite schieben, verschwindet nicht, wenn wir Akten schließen oder vernichten.“ Das SPD-Mitglied Annemarie Renger bekennt, die Ausführungen von Rita Süssmuth mitzutragen – eine Ohrfeige für den Parteifreund und Architekten der Ostpolitik Egon Bahr, der den benannten Schlußstrich am liebsten gesetzlich geregelt sehen möchte.

Auch der Behördenleiter Joachim Gauck schlägt in die gleiche Kerbe: „Ohne die Öffnung der Akten wären die Lügen derer, die damals verantwortlich waren, weitaus größer, wäre auch in großen Teilen der Bevölkerung der Grad der nachträglichen Selbsttäuschung weitaus höher, hätten wir als Medikamente gegen die Nostalgie nur unsere begrenzte Erinnerung und nicht auch umfangreiche schriftliche Quellen. Alte und neue Apologeten eines Schlußstrichs hören deshalb von dieser Stelle ein entschiedenes Nein zu ihrer Forderung.“

Am Abend, im Plenarsaal des Landtages, spielt die Forderung nach Aktenschließung keine Rolle. Bärbel Bohley wird in der Podiusmdiskussion mit Ignatz Bubis, Jutta Limbach, Wolfgang Ullmann und Monika Maron von Joachim Gauck gefragt, ob sie ihren vielzitierten Satz aufrechterhalte: „Wir haben Gerechtigeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen.“ Die Mitgründerin des Neuen Forums räumt ein, ihre Aussage „schrecklicherweise so gesagt“ zu haben. Zurücknehmen könne sie den Satz aber nicht, auch wenn er häufig von den falschen Leuten zitiert werde. Denn: „Um zu seinem Recht zu kommen, muß man ganz schön kämpfen im Rechtsstaat.“ Die Bürgerrechtlerin ist sich treu geblieben. Wolfgang Gast