Fünf Milliarden für 31 Minuten

Allerhöchste Priorität für „Schiene Nr.8“: Die ICE-Trasse Nürnberg–München über Ingolstadt wird vorangetrieben – gegenteiligen Gutachten und den Protesten der Naturschützer zum Trotz  ■ Von Bernd Siegler

„Wenn ich dran denk', da wird's mir ganz anders.“ Babette Münzengruber lebt seit ihrer Geburt in ihrem Haus in Offenbau. Das Haus ist knapp zweihundert Jahre alt und gut in Schuß. Die 77jährige Bäuerin hat 1936 den Bau der Reichsautobahn Nürnberg–München vor ihrer Haustür erlebt. Später den sechsspurigen Ausbau. Achtzigtausend Autos täglich rauschen direkt an ihrem Haus vorbei. Für Babette Münzengruber war das nie ein Grund auszuziehen. Jetzt aber soll sie raus. Tränen stehen der kleinen weißhaarigen Frau in den Augen. „Ich weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll.“ Das Haus nebenan steht bereits leer.

Das Münzengruber-Haus und vier weitere Bauernhöfe, die auf der Trasse des Hochgeschwindigkeitszuges ICE stehen, sind zum Abriß bestimmt. Mit 250 Kilometern in der Stunde soll der Superzug in zehn Jahren von Nürnberg nach München donnern. 123 Hektar Wald müssen für das Jahrhundertprojekt gerodet werden. Die Autobahn und die ICE-Strecke daneben würden als ein 70 Meter breites Verkehrsband die Landschaft zwischen Nürnberg und Ingolstadt zerschneiden. Die Fahrt im Intercity-Expreß ginge durch lange Tunnels, bis zu 15 Meter tiefe Einschnitte und über zehn Meter hohe Dämme. Nur gelegentlich würde der Blick frei in die vom Autoverkehr und Rhein-Main-Donau-Kanal bereits arg malträtierten Täler. Die Gefährdung gewaltiger Trinkwasservorkommen, das Aus für viele Biotope im „Naturpark Altmühltal“, für den auf der roten Liste stehenden Wachtelkönig und den Zwergtaucher sind vorprogrammiert – und das Aus für vier bis fünf Milliarden Mark.

So viel nämlich soll für das Projekt „Deutsche Einheit Schiene Nr.8“ fließen, um die Fahrtzeit von München nach Nürnberg um genau 31 Minuten zu verkürzen. Von einer gesicherten Finanzierung der Trasse kann keine Rede sein. Trotzdem versucht die Deutsche Bahn AG (DB) Tatsachen zu schaffen. Am 15. Juni feierte man den Baubeginn mit dem ersten Spatenstich in Nürnberg. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber bemühte dabei die „geostrategische“ Bedeutung des Projekts. Heinz Dürr, Vorstandsvorsitzender der DB, brachte die „europäischen Dimension“ ins Spiel, die „große Linie Berlin–Mailand“.

Auch Jürgen Rohlfs war in Nürnberg dabei – abseits des Rummels, bei der Kundgebung des Bundes Naturschutz. Er ist Vorsitzender der Bürgerinitiative „Kein ICE im Altmühl- und Anlautertal“. Rohlfs ist Professor für Mathematik an der Universität Eichstätt: „Mich ärgert vor allem der Umgang mit Zahlen und mit den Steuergeldern“, schimpft der 52jährige Vater von fünf Kindern und Liebhaber eines „kreativen Chaos“, wie der überfüllte Schreibtisch in seinem Haus in Enkering beweist. Das 500-Einwohner-Dorf würde durch ICE- Dämme völlig eingesperrt. Rohlfs nennt die Neubaustrecke schlicht ein „Milliardengrab“.

Auch der Bundesrechnungshof (BRH) wirft der DB vor, mit falschen Zahlen zu operieren. Er rechnet vor, daß die von der Bahn favorisierte Trasse über Ingolstadt im Vergleich zu der von Naturschützern favorisierten Augsburger Variante zwar acht Minuten schneller, aber auch 1,7 Milliarden Mark teurer sei. Die DB hatte nur 280 Millionen Mark Differenz errechnet. Der Bau der Ingolstädter Variante könne „kaum mit Wirtschaftlichkeitsfaktoren begründet werden“, heißt es im BRH-Gutachten.

Stur hält die Bahn an der Trasse über Ingolstadt fest

Zunächst hatten die Planer der Bahn stets beide möglichen Trassen im Blick. Doch ausgerechnet nachdem das Bayerische Landesamt für Umweltschutz aufgrund der zu erwartenden Naturzerstörung geraten hatte, die Variante Ingolstadt „nicht weiter zu verfolgen“, zog die Bahn die andere Streckenplanung über Augsburg aus dem Raumordnungsverfahren zurück. Seitdem hält man stur an der Ingolstadt-Trasse fest. DB- Pressesprecher Gerhard Scheuber: „Der Verkehr der Zukunft fließt über Ingolstadt.“

Vom Bundesrechnungshof oder anderen Gutachtern, die fast die gleiche Fahrtzeitersparnis über die Augsburg-Trasse mit Hilfe von Neigezügen wie dem schwedischen X-2000 nachweisen, läßt man sich nicht beirren. Auch nicht davon, daß diese Lösung gar keine Investitionen nach sich zöge. Die Strecke über Ingolstadt habe „allerhöchste Priorität“, verlautet aus der DB- Zentrale.

Trotz der horrenden Kosten und Naturzerstörung hält sich der Widerstand gegen den ICE in Grenzen. „Der Landstrich ist dünn besiedelt, hier sagt man nicht so leicht etwas gegen die Obrigkeit“, betont Rohlfs und verweist auf die traditionellen CSU-Stimmenanteile von weit über 70 Prozent. „Außerdem werden die Betroffenen mit Geld geködert.“

Zu diesem Zweck ist Werner Semmelroch, DB-Direktor, derzeit im Altmühltal unterwegs. Im Koffer hat er 36 Millionen Mark. Nicht ausgegebene Planungsgelder, die noch bis zum Ende des Jahres verbraten werden müssen. Vor zwei Wochen hielt Semmelroch eine Informationsveranstaltung in Offenbau ab. Babette Münzengruber war auch dabei. Dieses Mal gastiert er im 7.500-Einwohner-Städtchen Greding. Hier wie dort geht es um den Aufkauf von Grundstücken, die direkt in der Trasse liegen oder von dieser angeschnitten werden. „Schnelles Geld ist gutes Geld“, versucht Semmelroch die Landbesitzer zum Verkauf zu überreden.

Schweißperlen stehen dem kleingewachsenen 59jährigen auf der Stirn, er muß seine Anzugjacke ausziehen. Sein Hemd spannt bedenklich über dem Bauch. Semmelroch gibt Zuckerbrot und Peitsche: Man wolle doch nur das Beste für die Betroffenen – „notfalls aber müssen wir enteignen“. Mit der „Direktion für ländliche Erneuerung“, also der Flurbereinigung, und dem bayerischen Bauernverband habe sich die Bahn über die Grundstückspreise im übrigen schon geeinigt.

„Alle Gefechte gegen die Trasse können Sie vergessen. Wir bauen doch heute keine langsamen Strecken mehr!“ Von Semmelroch bekommen die betroffenen Grundstückseigner nur zu hören – sofern sie denn hören wollen –, daß jeder Widerstand aussichtslos sei. Und wozu auch? „Hier ist schon die Autobahn, da kann man nicht mehr viel kaputtmachen.“

Das ist zuviel. „Unverschämtheit“, entfährt es dem einen oder anderen, und auch der anwesende Bürgermeister von Greding nennt das „unredlich“. Seit siebzehn Jahren ist Otto Heiß Bürgermeister. Der CSU-Mann war einst vehement gegen den ICE. Heute geht es ihm nur noch darum, das Beste daraus zu machen. Händeringend läßt er sich über diffuse „Hoffnungsschimmer, über Bedrängnis, Mühsal und Leiden“ für seine Gredinger aus. Und will weiter „für unsere Heimat kämpfen“ – zusammen mit Bahn, Bauernverband und Flurbereinigung.

Unruhe in der Versammlung kommt auf, als Richard Mergner, Verkehrsexperte des Bundes Naturschutz, anhebt. „Für uns ist noch nicht aller Tage Abend. Überschlafen Sie das noch mal, ehe Sie sich von Ihrem Grund und Boden trennen.“ Der 33jährige Regionalplaner erinnert an das im Januar anstehende Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes über die ICE-Trasse. Da hält es Semmelroch nicht mehr auf seinem Platz: „Sie werden einen Bundesverkehrsweg nicht mit einer Wiese aufhalten können.“

DB-Direktor Semmelroch bräuchte sich nicht so aufzuregen, denn die meisten Anwesenden sind ohnehin verkaufsbereit. „Der Zug ist abgefahren“, heißt es, mit der Landwirtschaft stehe es schlecht, und die Bahn zahle doch gut.

Klaus Wittmann (siehe Portrait), Großlandwirt aus Oberhaunstadt bei Ingolstadt, denkt da anders. Der hagere 50jährige ist entschlossen, sich notfalls enteignen zu lassen. Keinen Millimeter seines ertragreichen Lößbodens will er an die Bahn verkaufen. Die künftige ICE-Trasse soll quer durch seine Felder verlaufen. Aber Wittmann sieht es als seine Lebensaufgabe an, „Störenfried der städtebaulichen Entwicklung“ zu sein und zu bleiben.

Der Offenbauer Pfarrer will kein Störenfried sein – aber einfach hinnehmen wird der die ICE- Planungen auch nicht. Im Oktober 1990 hat Gottfried Stark seinen Dienst in der 500-Seelen-Gemeinde angetreten. Genau erinnert der 37jährige sich an die Zeit zwischen Weihnachten und Sylvester 1990. Damals kamen die Planer der DB ins Dorf und erklärten den Betroffenen „in brutaler Offenheit“: „Im nächsten Jahr seid ihr nicht mehr hier.“ Man entschuldigte sich nachher zwar für dieses rigide Vorgehen, doch das „üble Spiel“ wurde nicht beendet.

„Die haben von Anfang an nicht mit offenen Karten gespielt“, kritisiert Pfarrer Stark die Bahn. So habe es in den ersten Plänen geheißen, daß kein einziges Haus dem ICE weichen müßte. Jetzt seien es schon fünf. Der ICE brauche eben große Kurvenradien, hätten die Planer erklärt. Da die DB alles in Einzelverhandlungen regelt, traue inzwischen keiner mehr dem anderen über den Weg: „Die Dorfgemeinschaft zerbricht daran.“

Nur verschuldete Bauern haben Land verkauft

Auch ein Grundstück der Kirche liegt genau auf der Trasse. „Ich werde nicht verkaufen“, betont Pfarrer Stark, der auch eine Antwort auf die Frage weiß, warum Bahn, Staats- und Bundesregierung Ingolstadt der Augsburg- Trasse vorziehen. „In Augsburg, da sind eben nur Menschen, in Ingolstadt, da sind die Autos.“

Johann Heckl, Gastwirt in Enkering, denkt genauso. „Da steckt die Audi dahinter, die haben doch die Macht.“ Der 57jährige hat frühzeitig alle betroffenen Grundstückseigner im Anlautertal organisiert. „Sonst nehmen dich die von der Bahn ins Kreuz.“ Bisher habe nur ein hochverschuldeter Bauer verkauft. „Die sind eben so, kaufen Maschinen ein wie die Weltmeister und wissen dann vor Schulden nicht mehr wohin.“

Diesen einen Landverkauf, so Heckl, könne die Bahn nun als Trumpf ausspielen. Da bei einem derartigen Projekt automatisch eine Unternehmensflurbereinigung durchgezogen werde, habe die Flurbereinigung jetzt die Flächen, um Eigentümern von Grundstücken auf der Trasse andere, gleichwertige Grundstücke woanders anzubieten. Landtausch könne dann auch gegen den Willen der Betroffenen durchgesetzt werden. „Die sind die Handlanger der Bahn“, ärgert sich Heckl über die Flurbereinigung.

Aber er ist stolz darauf, daß Werner Semmelroch mit seinem Geldkoffer um Enkering bisher noch einen großen Bogen gemacht hat.