■ 73 Prozent der SchweizerInnen sprachen sich für verschärfte Zwangsmaßnahmen gegen unliebsame Ausländer aus
: Potentielle Verbrecher

Ich schreibe diese Zeilen für eine Zeitung, die in der Stadt erscheint, in der meine Mutter als kleines Mädchen vor sechzig Jahren lernte, wer die Feinde der Nation waren und daß man Ordnung brauchte und also Ordnung schaffen mußte. Man weiß, wohin diese Ordnung geführt hat. Ich habe mich oft gefragt, wie eine solche Verblendung entstehen und schließlich soviel zivilisierte Menschen befallen konnte. Jetzt passiert es in meinem eigenen Land, der Schweiz.

Es gibt nicht nur das Exempel des Nazis. Selbst in der jüngsten Geschichte findet man zahlreiche Beispiele dafür, wie die repressive Versuchung letztlich zur Schande jener wurde, die mitgemacht haben. Man weiß inzwischen: Solche Bewegungen enden zwangsläufig in der Schande, weil sie auf Instinkte zurückgreifen, die zu den niedrigsten des menschlichen Wesens gehören – jene Instinkte, die anderen menschlichen Wesen die Daseinsberechtigung absprechen.

Das Gesetz hat noch nie das Verbrechen verhindert. Um Verbrechen zu verhindern, gibt es nur ein Mittel: Man muß die ganze Welt ins Gefängnis werfen, präventiv. Da das nicht möglich ist, versucht man – willkürlich – „potentielle“ Verbrecher zu bestimmen, und diese werden dann bezahlen, allen Menschenrechten zum Hohn. Die Schweiz hat diesen Schritt gerade getan, ihre Regierung vorneweg. Wir gehen der Barbarei entgegen.

Ab heute ist bei uns das menschliche Wesen nicht mehr nur eine Arbeitskraft, die man ausbeuten kann, nicht mehr nur ein Konsument, den man manipulieren kann, nicht mehr nur ein Steuerzahler, den man wie eine Zitrone ausquetschen kann, es ist fortan auch ein „potentieller Verbrecher“. Es genügt, daß man die Ausweispapiere nicht bei sich hat, daß man stottert, wenn man seinen Namen angeben soll, daß man krauses Haar hat, und man hört sofort auf, eine Person zu sein, man wird Verdächtigter.

Noch sprechen die künftigen Exekutoren in moderaten Tönen. Aber Gesetz ist nun Gesetz. Und man kann es drehen und wenden, wie man will, die Botschaft ist klar: Benommen von Angst und geblendet von Egoismus, wirft ein Land jene „Fundamente der Demokratie“, derer es sich pausenlos rühmt, über Bord, verletzt internationale Rechtsnormen und gleitet so in die Illegalität ab. Es ist der Anfang einer Illegalität, an deren Ende diejenigen, die sich nun anmaßen, Gerechtigkeit zu üben, möglicherweise selbst ins Schleudern geraten und ihrerseits zu Verbrechern werden. Monique Laederach

Schriftstellerin, lebt in der Schweiz