Explosive Stimmung

■ In Berlin ist es am auffälligsten: Vor allem im Bau unterbieten immer mehr Arbeiter aus dem EU-Ausland, vor allem Portugiesen und Briten, die Löhne ihrer deutschen Kollegen. In Brüssel wird heute über das Problem...

In Berlin ist es am auffälligsten: Vor allem im Bau unterbieten immer mehr Arbeiter aus dem EU-Ausland, vor allem Portugiesen und Briten, die Löhne ihrer deutschen Kollegen. In Brüssel wird heute über das Problem verhandelt.

Explosive Stimmung

Auf der Baustelle des Bewag-Hauptgebäudes in Berlin-Treptow arbeiten Facharbeiter verschiedener Nationen friedlich nebeneinander. Die Portugiesen machen den Weißputz, die Engländer verklinkern die Betonwände, ein kleines Grüppchen Deutscher werkelt am Dach. Aber die Eintracht der Nationen täuscht. „Die Stimmung unter den einheimischen Kollegen gärt. Wir werden doch immer weniger im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz“, klagt der Vorarbeiter und Dachdecker Walter K. Überall in der Branche übernehmen Arbeiter aus den Ländern der Europäischen Union (EU) die Jobs einheimischer Bauhandwerker. Das Sozialdumping steht auf der Tagesordnung der heutigen EU-Arbeitsministerkonferenz in Brüssel.

Die Arbeitsminister der EU- Länder diskutieren die Verabschiedung einer neuen „Entsenderichtlinie“: Damit sollen für alle Beschäftigten an einem Arbeitsort innerhalb der EU die ortsüblichen Arbeitsbedingungen und Mindestlohnsätze gelten. Dadurch würde vielen Subunternehmern ein Strich durch die Rechnung gemacht. Bisher bekommen hiesige Bauunternehmen für die Lohnkosten eines deutschen Facharbeiters zwei Engländer. Und das ganz legal, denn der europäische Binnenmarkt erlaubt den freien Handel mit Dienstleistungen innerhalb der Mitgliedsländer. Arbeitsbedingungen und Lohnniveaus dürfen frei ausgehandelt werden.

So kommt es, daß immer mehr portugiesische Subunternehmer, oft Filialen deutscher Firmen, ihre Kolonnen auf deutsche Baustellen vermitteln. Zehntausende vermeintlich selbständige Handwerker aus Großbritannien verdingen sich hierzulande. Klaus Schröder, Geschäftsführer bei der IG Bau in Berlin, Bezirk Süd-West, hat ein neues internationales Lohngefüge ausgemacht: „Der Pole arbeitet für 5 bis 10 Mark, der Portugiese für 15 Mark, der Engländer für 25 Mark.“ Das lohnt sich nicht nur für die Subunternehmer, sondern auch für die Zugereisten: In der verarbeitenden Industrie variierte der niedrigste tarifliche Stundenlohn im Jahre 1993 nach einer Statistik des Deutschen Instituts für Wirtschaft zwischen 4,31 Mark in Portugal und 27,20 Mark in Dänemark (Deutschland: 23 Mark). Wenn Arbeitslosigkeit im Heimatland hinzukommt, ist die Jobwanderung nicht mehr zu stoppen.

12 Stunden arbeiten, schlafen in Containern

Auf der Bewag-Baustelle in Berlin sollen nach K.s Angaben unter 100 bis 150 Arbeitern nur noch 10 deutsche Kollegen zu finden seien. „Unsere tariflich bezahlten Jobs werden verschwinden“, sagt K. „Jetzt brechen die englischen roofer auch noch in die Dachdeckerei ein.“ Die Beschäftigung der Briten lohnt vor allem deswegen, weil diese als „Selbständige“ abrechnen und den Unternehmen nicht mit Lohnnebenkosten zur Last fallen. Während die Arbeitsstunde eines hiesigen tariflich bezahlten Bauhandwerkers inclusive aller Lohnnebenkosten mit 55 Mark zu Buche schlägt, sind die Briten mit der Hälfte an Honorar zufrieden. Sie werden meist über holländische Agenturen, sogenannte „Koppelbaas“, an die Baustellen vermittelt.

„Von Scheinselbständigkeit ist deshalb zu sprechen, weil diese Personen sich in Großbritannien zwar mit einer sogenannten E-101- Bescheinigung bestätigen lassen, daß sie self-employed sind, tatsächlich aber genau wie jeder andere Arbeitnehmer auf Baustellen in den normalen Arbeitsbetrieb eingebunden sind“, erklärt Martin Mindermann, Europa-Experte bei der Berliner Senatsarbeitsverwaltung. Die Engländer unterlaufen damit auch das Verbot der Leiharbeit in der Baubranche. Briten, Iren, Portugiesen und Italiener stellen schätzungsweise rund 150.000 der in Deutschland auf dem Bau Beschäftigten. Die Handwerker verschwinden nach ihrem 10- bis 12-Stunden-Tag abends in Containercamps, in Berlin wohnen sie in ehemaligen Russenkasernen oder schlafen im eigenen Wohnwagen.

Ob eine neue Entsenderichtlinie der internationalen Lohnkonkurrenz ein Ende setzen wird, ist allerdings fraglich. Arbeitsminister Norbert Blüm will sich in Brüssel zwar für sie stark machen, aber gegen den Entwurf, der auch für Arbeitnehmer aus Drittländern (z.B. Polen) gelten soll, gibt es politische Widerstände. Portugal, Italien und Großbritannien hatten Bedenken.

Auch die Ausgestaltung der Richtlinie bereitet Kopfzerbrechen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) befürchtet eine Preisgabe der Tarifautonomie. Denn nur die wenigsten Lohntarife in Deutschland sind allgemein verbindlich, außerdem sind sie regional unterschiedlich gestaltet. Gesetzlich vorgeschriebene Mindestlöhne gibt es in Deutschland nicht. Auch soll die Richtlinie nur für Beschäftigte gelten, die länger als einen Monat an einem bestimmten Ort arbeiten. Das stört die Gewerkschaften, denn gerade in der Baubranche sind die ausländischen Handwerker oft kürzer vor Ort.

Kommt keine europaweite Einigung zustande, wäre auch ein nationaler Alleingang möglich, erklärt Peter Haupt von der Berliner Senatsarbeitsverwaltung. Berlin ist derzeit federführender Berichterstatter in Sachen „Grenzüberschreitende Beschäftigung“ der EU-Arbeitsministerkonferenz. Haupt erinnert an eine Gesetzesinitiative des Landes Nordrhein- Westfalen vor drei Jahren. Danach sollen Arbeitnehmer, die weniger als 80 Prozent des ortsüblichen Lohns erhalten, das volle ortsübliche Arbeitsentgelt einfordern können.

Auch andere Branchen dürften bald betroffen sein

Ob restriktive Regelungen die europäische Lohnkonkurrenz aber überhaupt unterbinden können, ist zu bezweifeln. Polnische Werkvertrags-Arbeitnehmer beispielsweise müssen hierzulande bisher schon ortsüblich bezahlt werden. Dies aber ist in der Praxis häufig nicht der Fall. Auch die Frage, wer die Einhaltung der europäischen Bestimmungen überhaupt kontrollieren kann, ist noch ungeklärt.

Europäische Lohnkonkurrenz dürfte künftig nicht nur die Baubranche betreffen. Handwerker aus der EU genießen in Deutschland nämlich einen rechtlichen Vorteil: Während sich hierzulande Handwerker erst dann niederlassen dürfen, wenn sie eine Meisterprüfung absolviert haben, dürfen Bürger anderer Mitgliedsländer schon nach sechs Jahren Berufserfahrung als Selbständiger in ihrer Heimat hierzulande einen eigenen Betrieb eröffnen. „Das sind mehr geworden“, sagt Andreas Heinem, Rechtsreferent beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Während 1989 nur etwa rund 103 EG-Ausländer als selbständige Handwerker in Deutschland registriert waren, stieg die Zahl auf 796 im Jahre 1992.

Auch die Branche des Transportverkehrs fürchtet die europäische Konkurrenz. „Mit dem europäischen Binnenmarkt verschärft sich in unserer Branche der internationale Konkurrenzkampf“, sagt Peter Baranowski, ÖTV-Geschäftsführer für den Güterfernverkehr in der Gewerkschaftszentrale in Stuttgart. Seit dem Jahre 1993 wurde im Güterfernverkehr das sogenannte Kabotage-Kontingent erhöht: Ausländische Speditionsunternehmen dürfen mit einer entsprechenden Genehmigung zwischen Be- und Entladepunkten im deutschen Inland Güter transportieren. Im Jahre 1998 soll diese Kabotage völlig freigegeben werden. „Das wird ein unerbittlicher Preiskampf“, sagt Baranowski.

Die Zahl der Tonnenkilometer, die von ausländischen Speditionsunternehmen in Deutschland gefahren wurden, erhöhte sich seit dem Berichtsjahr 1990/1991 von 284 auf 480 Millionen Tonnenkilometer 1992/93.

„Deutschland ist ein interessanter Markt, da gibt es viel zu verdienen“, sagt Baranowski. Auch Schröder von der IG Bau kann die zugereisten Arbeitnehmer verstehen: „Die Leute gehen eben dahin, wo die Arbeit ist. Aber das ist auch gefährlich. Bei den hiesigen Bauarbeitern kommt da so langsam ein Rassismus auf. Da muß einer nur mal Feuer an die Lunte legen, dann explodiert die Stimmung.“ Barbara Dribbusch