Womit haben wir den Tod verdient?

■ Wir dokumentieren einen Text, den die kurdische Abgeordnete Leyla Zana in der „Washington Post“ veröffentlichte

Heute droht mir und sieben anderen kurdischen Abgeordneten des türkischen Parlaments die Todesstrafe, wenn der Staatssicherheitsgerichtshof sein Urteil in unserem Fall verkündet. Welche Verbrechen haben wir begangen, um eine solche Strafe zu verdienen, vor einem Gericht, das 1980 von der Militärdiktatur eingerichtet wurde? Ein einziges: Wir erhoben unsere Stimme gegen die schreckliche Tragödie des kurdischen Volkes in der Türkei.

Seit siebzig Jahren wird sogar die Existenz der Kurden geleugnet, und ihre Sprache, Identität und Kultur sind verboten. Dieser systematische kulturelle Völkermord schloß in den letzten Jahren die Entvölkerung des Landes und die Zerstörung kurdischer Dörfer, Wälder und der traditionellen Gesellschaft ein. Selbst der türkische Minister für Menschenrechte gab zu, daß die Armee in den letzten zwei Jahren mindestens 1.380 kurdische Dörfer geräumt und zerstört hat. Etwa zwei Millionen Kurden wurden vertrieben, ein Dutzend Städte entvölkert und fünf bis sechs Millionen Kurden durch staatlichen Terror und wirtschaftliches Elend in die Westtürkei getrieben, weil der Krieg jetzt schon in sein elftes Jahr geht.

1991 waren wir von Kurden gewählt worden. (...) Unsere Pflicht als Abgeordnete war es, zu sprechen, alle Wege zu erkunden, um diesen schrecklichen Krieg zu beenden, der unser Land zerrissen hat, und eine friedliche Lösung für die 15 Millionen Kurden der Türkei zu finden im Rahmen der Demokratie und der bestehenden Grenzen.

In einem Land, das von einer antidemokratischen Verfassung beherrscht ist und unter Gesetzen lebt, die von der Militärdiktatur erlassen wurden, ist die freie Rede eine riskante Angelegenheit – auch für Mitglieder des Parlaments. Todesschwadronen haben über 2.000 politische und Menschenrechtsaktivisten umgebracht, die an den Kämpfen nicht beteiligt waren. Darunter waren auch 82 Aktivisten unserer „Demokratischen Partei“ und 34 Journalisten und Zeitungsverkäufer.

Aus ähnlichen Gründen sind 106 Journalisten, Akademiker und Schriftsteller im Gefängnis. Mein Mann Mehdi Zana, der ehemalige Bürgermeister der wichtigsten kurdischen Stadt, Diyarbakir, war fünfzehn Jahre im Gefängnis, weil er frei seine Meinung sagte, und er verbüßt jetzt erneut eine vierjährige Strafe, weil er vor dem europäischen Parlament aussagte.

Ich selbst entging zwei Anschlägen auf mein Leben nur knapp. Ich bin seit dem 5. März im Gefängnis. Zu den „Verbrechen“, die man mir vorwirft, gehören meine Aussagen vor der Helsinki-Kommission des US-Kongresses und der Carnegie- Stiftung für internationalen Frieden, meine Auftritte im europäischen Fernsehen und im türkischen Parlament, wo ich zur Feier der kurdisch-türkischen Freundschaft einen Satz in kurdischer Sprache sagte. Meine Kollegen sind aus ähnlichen Gründen angeklagt.

Unser kafkaeskes Verfahren bot einen beispiellosen Einblick in die politischen und rechtlichen Absurditäten des Landes. Die Anklage verhängte Sicherungsverwahrung über uns. (...) Beobachterdelegationen aus internationalen regierungsunabhängigen Organisationen, des Europäischen Parlaments und des Europarats kamen einstimmig zu dem Ergebnis, wir seien nur wegen unserer freien Meinungsäußerung angeklagt. Sie empfahlen, uns freizulassen und unsere Sitze im Parlament wieder einnehmen zu lassen. (...)

Die Behörden sind in einem veralteten Nationalismus befangen und verhalten sich paranoid gegenüber dem „kurdischen Separatismus“. In der schwersten wirtschaftlichen, politischen, sozialen und moralischen Krise der modernen Türkei geben kurdische Abgeordnete die perfekten Sündenböcke ab. Dieser absurde Krieg hat über 15.000 Menschenleben gekostet und verschlingt fast die Hälfte des Etats. Deshalb wollen die militärische Führung und ihre Marionette Çiller die öffentliche Meinung mit ein paar kurdischen Opfern beruhigen.

Ich bin 33 Jahre alt. Vierzehn Jahre lang erlebte ich die Verfolgung, viele Freunde wurden gefoltert und umgebracht, weil sie mit den Türken in Frieden und Demokratie leben wollten – unter der einzigen Bedingung, daß kurdische Identität und Kultur geachtet würden. Ich habe zwei Kinder, einen Mann und viele liebe Freunde. Ich liebe das Leben. Aber stärker ist der Wunsch nach Gerechtigkeit für mein Volk, das für Würde und Freiheit leidet. Was ist ein Leben in Sklaverei wert, in Entwürdigung und Verachtung deiner Identität? Ich werde mich der türkischen Inquisition nicht beugen.

Über mein eigenes Schicksal hinaus bin ich voll Sorge für das kurdische und türkische Volk. Die Türkei wird das Problem ihrer 15 Millionen Kurden nicht lösen, indem sie acht kurdische Abgordnete an den Galgen bringt. Der türkische Extremismus riskiert eine Katastrophe für beide Völker und den Westen, der die Türkei als Stützpunkt in einer strategisch wichtigen Region braucht. Der Westen sollte sich klarmachen, daß die Türkei nicht nur ein Standort für militärische Stützpunkte ist. Sie ist ein Land voller Leidenschaften und Konflikte, die wie im Iran des Schah in Irrationalität umschlagen können.

Wenn die Kriegsherren der Türkei mit uns Abgeordneten die Hoffnungen auf eine friedliche Lösung ermorden, dann ebnen sie den Kurden den Weg in das Lager der Gewalt und des islamischen Fundamentalismus. Und wenn die Kurden, den islamischen Revolutionären des Iran unmittelbar benachbart, diesen Schritt vollziehen, dann wird die ganze Türkei folgen. Und das heißt Leid für uns alle. Leyla Zana

Aus dem Amerikanischen von

Meinhard Büning