Der Zusammenbruch der Staatssicherheit 89

Alle Versuche, im Herbst 89 die Staatssicherheit der DDR zu retten, scheiterten. Unter dem Druck der Bewegung entschied sich die Führung des Geheimdienstes nicht für den Gegenangriff, sondern für den geordneten Rückzug  ■ Von Guntolf Herzberg

I Der Untergang der Staatssicherheit im Herbst 89 erschien ihr selbst wie ihren Gegnern – der Bürgerbewegung oder den westlichen Geheimdiensten – bis kurz vor dem tatsächlichen Ende undenkbar. Wer sollte dem Riesenapparat mit seinen zuletzt 83.000 hauptamtlichen und 170.000 inoffiziellen Mitarbeitern gefährlich werden, ihn gar stürzen? Daß es mit der DDR in den achtziger Jahren bergab ging, sahen die Dissidenten, große Teile der Bevölkerung, die Ausreisewilligen, nur die Führungen von Partei und Staat wollten es auf keinen Fall wahrnehmen. Daß das MfS mit seinen Berichten präzise und vorsichtig die Führung informierte, ist nachweisbar. Frühe Anzeichen für eine politische Krise in der DDR gab es vereinzelt in den Reden und Referaten des Ministers und des 1. Sekretärs der Kreisleitung (KL) der SED im MfS.

Seit 1982 konzentrierte sich das Interesse des MfS mehr und mehr auf die „Politische Untergrundtätigkeit“ (PUT), die „feindlich-negativen Kräfte“ oder „sogen. Opposition“ als dem immer wichtiger werdenden (aber noch nicht gefährlichen) Gegner. Nach Stasi-Erkenntnissen umfaßte der innere Feind 1984 etwa 100 Friedenskreise und 50 Ökologiegruppen. Wie Mielke entrüstet feststellte, war die Angst dieses Gegners vor der Stasi geringer geworden, begannen einzelne Gruppen hinter die Tätigkeit der IMs zu kommen.

Die innere Opposition wurde für das MfS zum nicht mehr lösbaren Dauerproblem, dazu kamen antisozialistische Einflüsse aus Polen und Ungarn, schließlich die Perestroika aus der SU, das „Neue Denken“ – das immer stärker in die SED und fallweise in das MfS einsickerte.

Anfang 1988 ist auch Mielkes Gestus des Alles-im-Griff-Habens deutlich angeschlagen. Die Initiative ist nicht mehr unbeschränkt vorhanden, das MfS geht spürbar zum Krisenmanagement über. Auch die Partei. Sie zieht in der ganzen DDR die Notbremse: 23.000 Parteiverfahren werden durchgeführt – die höchste Zahl von Parteiverfahren seit Bestehen der SED.

Im Sommer 89 beginnt die Lage aus der Sicht des MfS kritisch zu werden. Wie der 1. Sekretär der KL der SED im MfS, Generalmajor Horst Felber, in einem Referat feststellt, haben sich mit den Vereinbarungen der Wiener KSZE- Nachfolgekonferenz die Kampfbedingungen für das MfS nachteilig verändert, außerdem wurden dem MfS im Zuge der ökonomischen Krise auf sehr empfindliche Weise Mittel und Fonds gekürzt.

Ein Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) vom 1. Juni nennt bereits 160 Zusammenschlüsse mit etwa 2.500 Personen (ohne Sympathisanten und politisch Irregeleitete), davon etwa 600 in den Führungsgremien, ihr harter Kern umfasse 60 „unbelehrbare Feinde des Sozialismus“.

Am 29. Juni hält Mielke vor der KL der SED seine letzte große Rede – sie umfaßt 145 Seiten und enthält faktisch das Eingeständnis, eines nicht mehr zu gewinnenden Kampfes. Die Gründe: Die Kommunisten in der SU, Polen, Ungarn gehen eigene Wege; in Polen und Ungarn haben sich starke oppositionelle Kräfte gebildet, die bereits auf dem Wege zur Macht sind; mit Gorbatschows Besuch in der BRD und der „Gemeinsamen Erklärung“ beider Staaten wird die DDR von der SU mehr und mehr im Stich gelassen; in der DDR treten „feindlich-oppositionelle Kräfte“ immer offener in Erscheinung – mit nichtgenehmigten Druckerzeugnissen, Forderungen nach Demokratie, Umweltschutz, Entmilitarisierung der Gesellschaft, Abschaffung von Feindbildern und so weiter.

Das MfS registriert den wachsenden Widerstand in der Bevölkerung: Man hatte die Mittel zum Zuschlagen, in den Bezirken gab es Listen, wer im Ernstfall zu internieren sei, die entsprechenden Lager waren ausgesucht. Die äußeren Gefahren (jetzt mehr aus dem Osten als aus dem Westen) waren absehbar, schienen aber der Führung beherrschbar, wenn die SED hart bleibt, die Perestroika abblockt und vor allem der Opposition jedes Mitspracherecht verweigert.

Das Ministerium für Staatssicherheit war militärisch stabil: Wer die Politik kritisierte – und sei es noch so vorsichtig –, bekam ein Parteiverfahren und mußte das MfS verlassen.

II Nach dem Sturz der kommunistischen Herrschaft in Ungarn und Polen ging es plötzlich um die eine Frage: Und was wird aus der DDR? – Für das MfS waren vier Fälle denkbar: 1. Das KGB (korrekt: das KfS) und die sowjetischen Berater im MfS befehlen G & P, „Neues Denken“. Die Stasi wird damit zum Motor von Reformen, was auch auf eine Entmachtung Mielkes hinausgelaufen wäre.

2. Der SED-Staat gerät in eine Krise, die SED läßt das MfS gegen das Volk einsetzen („chinesische Lösung“).

3. Der SED-Staat gerät in eine Krise, erklärt das MfS zum Sündenbock und opfert es.

4. Der SED-Staat gerät in eine Krise, geht dabei zu Bruch und reißt im Absturz das MfS mit.

Die vielen ZAIG-Berichte zeichnen die kritischer werdende Situation nach: Ist es erst die Bürgerbewegung, so verstärken sich seit Mitte Oktober die unzufriedenen Stimmungen in der ganzen Bevölkerung. Dazu ein Stimmungsbericht vom 13. 10.: Das Politbüro ist sich des Ernstes der Lage und der Tragweite der Ereignisse nicht bewußt. Die innenpolitische Lage sei explosiv. Wenn nicht bald konkrete Entscheidungen getroffen werden, „gingen die Arbeiter auf die Straße“. Drei Tage später berichtet das MfS von direkteren Angriffen auf die Partei- und Staatsführung, erstere „habe durch eine uneinsichtige Haltung und starres Festhalten an einer offensichtlich nicht umsetzbaren politischen Linie ... schweren politischen Schaden für die DDR herbeigeführt“. Zwei Tage später tritt Honecker zurück.

Jetzt muß sich das MfS positionieren: bleibt es mit der alten Führung verbunden, wechselt es zur neuen über oder sucht es einen eigenen Ausweg? Erste Reaktion: Schweigen. Mielke ist sprachlos, das Kollegium (die ranghöchsten Generäle) ebenfalls. Erst Ende Oktober referiert der 1. Sekretär der Kreisleitung, Felber, vor der neuen SED-Führung und den Leitern der Diensteinheiten. Tenor: Die Gefährlichkeit der Lage ist klar. Die Mitarbeiter halten sich strikt an die gegebene Linie, sie sind aber bereit, „wenn der Befehl gegeben wird, auch anders zu handeln“. Die politische Linie heißt nun: „Maßnahmen zum Auf- und Ausbau des Ansehens des MfS gegenüber der Bevölkerung“ und „Ausgestaltung der Demokratie“. Also – man glaubt noch an eine erfolgreiche Anpassung an die politischen Veränderungen. Mielke macht sich allerdings zu dieser Zeit bereits Gedanken über die Verteidigung der Dienstobjekte, das Vertreiben anrückender Demonstrantenmassen.

Da ruckt es erstmals auf der untersten Ebene des MfS. Einen Tag vor der großen Kundgebung auf dem Alexanderplatz am 4. November schreibt die Kreisdienststelle Berlin-Köpenick einen ganz vorsichtigen Brief an Mielke, in dem in diplomatisch feinster Ziselierung sein Rücktritt angemahnt wird.

Nach dem 4. 11. wird es für das MfS zusehends brenzlig: Man fühlt sich von den Medien angegriffen und von der Partei im Stich gelassen, befürchtet, daß „das MfS in diesem Prozeß der Auseinandersetzungen ,geopfert‘ und für die Lage verantwortlich gemacht werden“ soll.

Am 7. 11. sammelt im Ministerium die Abteilung Parteiorgane, Sektor 1, die drängendsten Binnenprobleme: genannt werden unter anderem die Privilegien der Leiter, das drohende Abtauchen „unserer besten Kräfte“, nämlich der inoffiziellen Mitarbeiter (IM) – doch das größte lautet: „Die Handlungsfähigkeit des MfS wird in Frage gestellt.“ Schließlich ist am selben Tage die Regierung zurückgetreten, damit auch der Staatssicherheitsminister, der am nächsten Tag auch seinen Sitz im Politbüro verliert.

Am 9. 11. – dem letzten Tag der intakten Mauer – protestiert die APO (Abteilungsparteiorganisation) 11 des MfS, daß sie vom ZK und durch Mielke getäuscht worden sei: „Diese Tatsache ist bitter, aber auch durch unser eigenes inkonsequentes Verhalten als Parteimitglieder vor allem im Sinne von politisch motivierten ,Befehlsempfängern‘ verursacht worden.“

Mit der Maueröffnung bröckelt auch das MfS auseinander. Im renitenten Sachsen hatte es seit Wochen schon Demos und Drohungen gegen das MfS und die Forderung nach seiner Beseitigung gegeben. Noch erlebte das ZK auf seiner Tagung vom 9./10. 11. den Mielke-Stellvertreter Rudi Mittig, der „im Vertrauen auf die Kraft unserer Partei“ sich für die „revolutionäre Erneuerung des Sozialismus in unserem Lande“ einsetzten will.

Derselbe Mittig muß drei Tage später allerdings eine Untersuchungskommission einsetzen, die den Vorwürfen des Funktionsmißbrauchs und der Korruption innerhalb des MfS nachgehen soll. Es ist auch der Tag, an dem Mielke seinen letzten Auftritt in der Volkskammer hat, mit seinem unsterblichen hilflosen Ausspruch „Ich liebe euch doch alle!“. Diese Peinlichkeit will das MfS nicht auf sich sitzen lassen. Es hagelt Proteste an die Leitung, das Kollegium distanziert sich von diesem Auftritt und entschuldigt sich beim Präsidenten der Volkskammer. Damit endet auch die interne Amtszeit Mielkes – drei Tage bevor das MfS sich nominell auflöst, um in das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) zu mutieren.

III. Damit beginnt die Maskerade. Denn am selben Tag (15. 11.), an dem das Kollegium des MfS seinen Untergebenen dankt und dem Ministerium einen Nachruf hält, liegt schon ein ausführlicher „Struktur-plan des Staatssicherheitsorgans“ auf dem Tisch: Weniges vom alten MfS ist weggefallen (etwa das Besucherbüro in Westberlin, der Be-reich KoKo, die Kontrolle des Reiseverkehrs), die Masse der Diensteinheiten wird in fünf neue Bereiche umgetopft.

Zwei Tage später wird das neue Amt installiert, mit dem bewährtem Altkader Generalleutnant Wolfgang Schwanitz (seit 1951 im MfS) an der Spitze. Eine wichtige Arbeit wird sofort in Angriff genommen: die als Sicherstellung bezeichnete gezielte oder wilde Vernichtung von Akten und Unterlagen. Was soll alles beseitigt werden? Lehr- und Ausbildungsprogramme, die Berichte der illegalen Überwachungen, IM-Berichte und das ungeheure Material, das zur Überwachung selbst der nicht widerständigen Bevölkerung – es handelt sich um 40 Kategorien von Bürgern! – gesammelt worden ist.

Nach außen gibt sich das AfNS aufgeschlossen, publiziert „Fakten und Argumente“, verspricht alternative Ideen zur Weiterentwicklung des Sozialismus und zur eigenen Arbeit „konstruktiv zu prüfen und zu übernehmen“. Schwanitz gibt Interviews: Er hat dem Volk immer ehrlich gedient, das MfS habe immer nach dem geltenden Recht gehandelt, leider wurde man immer mehr zum Organ Honeckers ...

Doch inzwischen ist die alte Disziplin gelockert. Teile der MfS-Basis signalisieren der Leitung ihren Protest, fordern die Reinigung der Partei auf allen Ebenen, Untersuchungen des Amtsmißbrauchs innerhalb des MfS.

Als am 3. Dezember das Politbüro und das ZK der SED geschlossen zurücktreten, ist es auch um das MfS/AfNS geschehen. Die Ereignisse im Lande jagen sich, in den Strafvollzugsanstalten wird gemeutert, in vielen Städten demonstrieren die Bürger vor den Stasi- Gebäuden, am 4. 12. dringt erstmals eine Menschenmenge in das Bezirksamt des AfNS in Erfurt ein. Die Berliner Zentrale kann das auseinanderbrechende Amt nicht mehr regieren. Oft kommen an einem Tage die widersprechendsten Angaben und Befehle, einzelne Bezirksämter beenden von sich aus ihre Tätigkeit, es ist – DDR- weit – zugleich Anarchie und Agonie, 14 Tage geht alles drunter und drüber.

Am 4. Dezember protestieren die Kreisämter Leipzig-Stadt und Plauen sowie eine Parteiorganisation innerhalb der Zentrale gegen die belastete Führung des Dienstes, am selben Tag tritt das Kollegium des AfNS geschlossen zurück. Tags darauf protestieren eine Parteiorganisation des MfS aus Potsdam, die Bezirksämter Halle und Cottbus, die Kreisämter Rudolstadt und Erfurt. Der Tenor ihrer Fernschreiben ist in etwa immer derselbe: die Feststellung, von

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Mielke und der SED-Führung verraten, mißbraucht und betrogen worden zu sein; die Forderung nach Bestrafung der Verantwortlichen; das Bekenntnis zu Erneuerung, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Es ist schwer zu entscheiden, was diese Erklärungen bedeuten: Endlich sich äußern könnender Protest? Die Vorstellung, in der „Wende“ auch eine aktive Rolle spielen zu können? Der Wunsch, die eigene Haut zu retten und sich den neuen Kräften zu empfehlen?

Inzwischen werden an der Spitze die „Vorläufigen Grundsätze für die Aufgaben und Strukturen des AfNS“ ausgearbeitet. Sechs neue Chefs werden in dem Papier genannt, es sind – wen wundert's – die alten Leiter.

Tag für Tag verschlechtert sich die Situation für die Stasi, weitere Kreisämter werden besetzt. Am 7.12. beurteilt eine Leitungssitzung die Gesamtsituation als äußerst bedrohlich und erwägt zwei Alternativen: die Einstellung der Arbeit – das „wäre das generelle Aus“, oder: Aufstellung von bewaffneten Selbstschutzkräften und Nutzung zuverlässiger Spezialkräfte. In dieser kritischen Lage hat die Stasi einen ausnehmend guten Gedanken: sie kontaktiert ihren einstigen Feind – die Bürgerbewegung – und zielt auf eine Sicherheitspartnerschaft. Am 8. 12. fand ein klärendes Gespräch zwischen MfS-Offizieren und den Forum- Leuten Bärbel Bohley, Jens Reich und Klaus Wolfram statt, mit einem ausführlichen „Festlegungsprotokoll“ als Abschluß.

9. 12.: Das Neue Deutschland teilt die Inhaftierung Erich Mielkes mit. Am selben Tag beginnt sich das AfNS auf Anweisung von Schwanitz zu entwaffnen – auch hierbei sei „eine Sicherheitspartnerschaft mit den Kräften der Bürgerkomitees zu gewährleisten“. Inzwischen hatte die Leitung bereits eine neue Idee: das hoffnungslos desolate AfNS aufzulösen und an dessen Stelle ein Amt für Verfassungsschutz und (für die Auslandsspionage) einen Nachrichtendienst zu setzen. In dem Entwurf einer Rededisposition für Schwanitz vom 13. 12. steht: „Keine Identität mit dem AfNS.“ Am 14. 12. – dem Tag der nominellen Auflösung des Amtes – wurde mitgeteilt: „Genosse Generaloberst Großmann wurde mit der Bildung des Auslands-Nachrichtendienstes der DDR beauftragt und Genosse Generalmajor Engelhardt mit der Bildung des Verfassungsschutzes der DDR.“ Also die alten Spezialisten.

Doch zur geregelten Arbeit kommt man nicht mehr: Der Runde Tisch untersagte auf seiner Sitzung vom 27. 12. die Bildung eines Verfassungsschutzes. Das Amt ist dagegen entschlossen, die Installierung „unbeirrt, zielstrebig und entschlossen durchzusetzen“. Am 11. Januar 1990 wird in Ostberlin gegen diesen Schritt demonstriert, vier Tage später kommt es zu jenem „Sturm auf die Normannenstraße“, der das Ende herbeiführt. Am 18. 1. löst General Engelhardt auf Anweisung von Ministerpräsident Modrow das Amt auf. Doch das „Ende eines Geheimdienstes“ (so der Titel der Recherchen von Anne Worst) ist damit gerade mal eingeleitet.

IV. Es bleibt die Frage nach den Ursachen dieses lautlosen Sturzes eines allmächtig scheinenden Imperiums.

Das MfS war das Instrument („Schild und Schwert“) der SED. Die Partei führte dieses Instrument nicht mehr, sie ließ es fallen. Der Rücktritt Honeckers und die ersten Enthüllungen über die Gerontokratie wirkten auf die Basis des MfS wie ein Schock. Der Minister – jahrzehntelang eine unangreifbare Autorität – hatte sich mit seiner Volkskammerrede lächerlich gemacht. Der zweite Schock. Der Mechanismus, nach dem die gesamte Stasi funktionierte: Befehl und Unterordnung, bei (preußisch gesprochen) Insubordination Bestrafung, funktionierte nicht mehr. Die vielen Fernschreiben des neuen Leiters Schwanitz zeigen nur bloßes Reagieren, faktische Führungslosigkeit. Zudem wurde das Elitebewußtsein der Stasi-Offiziere plötzlich mit den Massen auf der Straße und ihrem Haß auf das MfS konfrontiert. Das MfS wurde offen zur Zielscheibe.

In dieser Situation gab es nur zwei Möglichkeiten: das Zuschlagen oder den möglichst geordneten Rückzug. Das erste wäre eine Alles-oder-nichts-Strategie gewesen. Die gesamte DDR war in Bewegung, nicht nur einige Großstädte. Das Risiko für das MfS war unkalkulierbar hoch. Die zweite Variante wäre gleichbedeutend mit sofortiger Niederlage, Demütigung, aber auch mit den geringsten Verlusten, Zeit für das Spurenverwischen, geordneter Abwicklung, Sicherung wichtiger Ressourcen. Vor allem: ein kalkulierbares Risiko.

Offensichtlich entschieden strategisch denkende Offiziere auf allen Ebenen und an allen Orten sich für die zweite Variante. Was hätten sie auch machen sollen? Die eigenen Waffen in den Diensteinheiten hätten militärisch keine Rolle gespielt. Die Kampfkraft des Wachregiments wurde mit „null“ eingeschätzt. Die ganze Macht des MfS beruhte stets darauf, daß die Bevölkerung sich – aus realer und eingebildeter Angst – der Stasi gebeugt hatte und sich nach deren Spielregeln verhielt; die wenigen Abweichler konnten „operativ bearbeitet“, eingespert, abgeschoben werden. Mit einem Volk, das auf die Straße geht, konnte man dagegen nicht fertig werden. Als Fazit bleibt: Der Zusammenbruch der Staatssicherheit war nicht geplant, nicht geübt, nicht vorauszusehen, er erfolgte mit dem Sturz der alten SED-Führung, durch die gewaltfreien Aktionen der Bürger, aber auch durch den Zerfall der militärischen Disziplin und den einmaligen „zivilen Ungehorsam“ von Teilen der MfS-Basis, er konkurrierte einige Wochen mit der Neugründung als AfNS, mit der Hoffnung auf einen Verfassungsschutz und einen Nachrichtendienst.

Als aber Volk, Bürgerbewegung, Runder Tisch und schließlich auch die Regierung dies nicht wollten, war die gewaltlose Auflösung auch für das MfS die optimale Variante.