„Die Witwe ist klar übervorteilt worden“

■ Wer verhindert Entschädigung von Asbestkranken? - Antworten eines Anwalts / „Asbest - die geleimten Opfer“ (3)

Wie der Witwe des Toschi-Arbeiters Bollmann und dem hustenden Klöckneraner Fritz Iwohn geholfen werden könnte, fragten wir den Düsseldorfer Rechtsanwalt Rolf Battenstein. Er verteidigt Menschen mit Berufskrankheiten in Prozessen gegen sture Berufsgenossenschaften.

taz: Wir haben gestern in der taz von Erich Bollmann erzählt, der 17 Jahre bei der Asbest-Firma Toschi gearbeitet hat und davon eine verhärtete Asbestose-Lunge bekam, die nicht entschädigt wurde. Wie geheißen ging er alle drei Jahre zur Nachuntersuchung. 1993 wurde dann zusätzlich zur Asbestose auch ein Asbestlungenkrebs bei ihm festgestellt. Drei Monate später war er tot. Nur diese drei Monate seit Entdeckung des Krebses bekam er Entschädigung. Geht das mit rechten Dingen zu?

Rolf Battenstein: Nein. Dieser dreijährige Nachuntersuchungsintervall bei Asbestfällen ist einfach fahrlässig: Die haben bei Toschi massiv Asbeststaub einatmen müssen, und die Verschlimmerungstendenz ist bei allen diesen Asbestfällen frappierend. Innerhalb dieser drei Jahre zwischen den Untersuchungen kann ein Lungenkrebs auftreten, der, wenn er dann endlich entdeckt wird, schon inoperabel groß ist.

Wer hat da geschludert?

Eindeutig die Berufsgenossenschaft, die müßte halbjährliche oder jährliche Kontrollen sicherstellen. Die Witwe Bollmann ist klar übervorteilt worden, weil sie statt für zwei, drei Jahre nur für drei Monate eine Rente bekommen hat. So ein Lungenkrebs fällt ja nicht vom Himmel. Gutwillige Versicherungsmenschen merken deshalb bei so einem Fall an: „Tag der Diagnose ist Zufallsdatum, bitte Schätzung herbeiführen, wann der Lungenkrebs mutmaßlich aufgetreten ist.“ Das kann man von der Größe und der Ausbreitung zurückschließen, auch die Familienangehörigen fragen, wann die ersten Schmerzen aufgetreten sind.

Nun werden ja noch nicht mal alle entdeckten Asbestkrebsfälle entschädigt – 1992 zum Beispiel haben die Berufsgenossenschaften von 1.253 angezeigten Asbestkrebsfällen 519 entschädigt, also nicht mal die Hälfte.

Der DGB geht sogar davon aus, daß jährlich 10.000 Lungenkrebsfälle in Deutschland beruflich bedingt entstehen. Es gibt also bestimmt mehr entschädigungsreife Fälle als die Berufsgenossenschaften entschädigen.

Daß so wenige entschädigt werden, liegt doch auch an den zu hohen Bedingungen: Asbestlungenkrebs reicht ja nicht, da muß man wenigstens noch eine Asbestose vorweisen können oder 25 sogenannte Asbestfaserjahre.

Auf diese Weise fallen 90 Prozent durch den Rost. Die Internationale Arbeitsorganisation in Genf stellt diese Bedingungen nicht. Die haben, und da hat auch die Bundesregierung Deutschland unterschrieben, 1980 ein Abkommen geschlossen über eine erweiterte Berufskrankheitenliste: Danach muß ein Asbestkrebs auch ohne Asbestose und ohne 25 Faserjahre entschädigt werden.

Und diese Liste gilt auch für Deutschland?

Die ist nicht innerstaatliches Recht, aber wir könnten die Erkenntnisse dieser Liste hier umsetzen, und zwar über einen Paragraphen in der Reichsversicherungsordnung: „Berufskrankheit nach neuer Erkenntnis“.

Ein Gutachter könnte also sehr wohl einen „einfachen“ Asbestlungenkrebskranken der Berufsgenossenschaft zur Entschädigung vorschlagen?

Ja, aber das würde sich heute kein Gutachter mehr trauen. Wenn er es täte, würden die Genossenschaften ihm die Gutachten entziehen. 1981 hat das jemand gewagt, der hat es zu spüren bekommen.

Die Gutachter sind die eine Seite. Könnten nicht auch die Gewerbeärzte bei den Landesarbeitsministerien vehementer auftreten?

Natürlich, aber die wollen von den Berufsgenossenschaften ernst genommen werden. Es hat immer nur ganz wenige Gewerbeärzte gegeben, die ihr besseres Wissen unverdrossen weitergegeben haben, und einer der ganz wenigen ist vor fünf Jahren mit 50 Jahren gestorben.

Kann man denn auf eine Verbesserung des Berufskrankheitenrechts hoffen – schließlich werden die meisten Asbestkrankenfälle wegen der langen Latenzzeit ja erst noch auftreten?

Bis zum Jahr 2020 wird die Fallzahl noch erheblich ansteigen. Aber eine Verbesserung des Berufskrankheitenrechts steht nicht an. Wir haben im Gegenteil eine ganz primitive Berufskrankheitenliste. Die ist massiv von den Berufsgenossenschaften zurückgedrängt worden. Im Bundesarbeitsministerium in der Sektion Arbeitsmedizin geben nämlich die Juristen der Berufsgenossenschaften den Ton an. Gewerkschaftsvertreter oder Anwälte werden nicht gehört.

Wir möchten Ihnen auch noch den zweiten Fall vorlegen zur Ferndiagnose, den wir in der Zeitung vorgestellt haben, den Fritz Iwohn: Der hat von insgesamt 41 Jahre auf Werften und im Stahlwerk eine Asbestose davongetragen. Angeblich aber mindert die seine „Erwerbsfähigkeit“ nicht um 20 Prozent oder mehr, wird also nicht entschädigt. Hätten Sie da einen Tip?

Da gibt es jährlich hunderte solcher Fällen, die meiner Meinung nach zu Unrecht keine Rente bekommen. Die Gutachter messenbei den Asbestosekranken nämlich nur das verbliebene Lungenvolumen, statt zu überlegen, welche Erwerbsmöglichkeiten ihnen jetzt auf dem Arbeitsmarkt verschlossen sind. Die Reichsversicherungsordnung verlangt aber eigentlich eine Einschätzung des Verlustes an Erwerbsmöglichkeiten und nicht bloß das Messen des Lungenvolumens.

Der DGB hat ausgerechnet, daß in den alten Bundesländern 10 Millionen gewerbliche Arbeitsplätze inhalativ belastet sind. Das sind also 10 Millionen Arbeitsplätze, auf denen ein Asbestotiker gar nicht mehr arbeiten kann, weil das zu gefährlich für seine Gesundheit wäre. Ein Asbestotiker kann nicht mehr in der Gießerei arbeiten, nicht mehr in der Bäckerei, auf der Werft, in der Kaffeerösterei ... Legt man diese Zahl des DGB von 10 Millionen inhalativ belasteter Arbeitsplätze zugrunde, käme Fritz Iwohn auf eine „Minderung der Erwerbsfähigkeit“ von sagen wir mal 30 Prozent. Er müßte also eine Entschädigungsrente bekommen. Fragen: Christine Holch