Der Himmel über São Paulo

Caio Fernando Abreus Krimi sucht profane Erleuchtung im Ramsch der brasilianischen Alltagskultur  ■ Von Rolf Spinnler

Der Katholizismus ist die Postmoderne, und die Postmoderne ist der Katholizismus.“ So schrieb einmal ein Kritiker über die Filme des Spaniers Pedro Almodóvar. Auch Camilla Paglia, Postfeministin und Italoamerikanerin, hat der jahrhundertelangen Hegemonie der White Anglo-Saxon Protestants in der Kultur des Westens eine düstere Prognose gestellt. Ihre Tage seien gezählt; und was da in unserem Fin de siècle siegreich über protestantische Askese und Innerlichkeit, Bilderverbot und Privilegierung der Schriftkultur triumphiert, nennt Paglia einen heidnisch-katholischen Synkretismus. Die Verkörperung dieses Triumphes ist Madonna, „Venus der Ätherwellen“. Literatur und Protestantismus hatten in der Vergangenheit einiges gemeinsam. Verdankte sich der Erfolg der Reformation zu einem guten Teil der gerade erfundenen Buchdruckerkunst, so profitierte umgekehrt die schreibende Zunft vom „sola scriptura“ der protestantischen Theologie. Deshalb hat der Siegeszug der audiovisuellen Medien die Literaten in eine tiefe Sinnkrise gestürzt. Und nicht wenige von ihnen reagieren auf diese narzißtische Kränkung mit Schmähungen, Groll oder gar Kastrationsängsten und ziehen sich zur Verteidigung ihres Bleistifts in die Klosterbibliothek zurück. Andere dagegen sehen in der Brechung des Kulturmonopols der Schrift gerade eine Chance für die Literatur: die Wiedergeburt des Romans aus dem Geist von Kino und Popkultur. Und es überrascht nicht, daß sich solche Autoren vor allem dort finden, wo es einen kulturellen Monotheismus nie gab; wo das synkretistische Pantheon der Götter, Heiligen und Dämonen auch einen Synkretismus der Stile und Medien begünstigt hat. In Ländern wie Brasilien etwa.

Der Reporter beim „Diário da Cidade“ in São Paulo („der vielleicht übelsten Tageszeitung der Welt“) läßt sich von seiner Nachbarin, einer wahrsagenden Mulattin, ein Muschelorakel legen: „Hinter mir hing eine Collage, wo sich Orixás und Heilige der katholischen Kirche ebenso tummelten wie Buddha, Mutter Teresa von Kalkutta, Chico Xavier, der Papst und Film- und Fernsehkünstler.“ Manche Bücher liefern ihr eigenes poetisches Programm gleich mit. Der 1948 geborene Brasilianer Caio Fernando Abreu, Star unter den jüngeren Erzählern seines Landes, aber hierzulande noch weitgehend unbekannt, hat so ein Buch geschrieben.

„Was geschah wirklich mit Dulce Veiga?“ ist ein Roman, der einem immer mal wieder einen diskreten Fingerzeig gibt, wie er gelesen werden will. Wie die afrobrasilianische Wahrsagerin verknüpft er die verschiedensten Genres, Stilebenen und literarischen Zitate zu einer virtuosen Collage, in der alles nebeneinander seinen Platz hat: die Ikonen und Mythen der Popkultur, die Klischees der Yellow Press und der Seifenopern, französicher Strukturalismus und Astrologie, C. G. Jung und New Age, Pornovideo und Initiationsreise, Thriller und Märchen. Der heilige Georg trifft auf Arnold Schwarzenegger, Raymond Chandler begegnet Virginia Woolf, und die Königin des Chansons verwandelt sich in die große Muttergöttin.

Der Roman beginnt als Thriller und endet als Märchen. Der Ich- Erzähler, „ein arbeitsloser, verschuldeter, verbitterter, einsamer und illusionsloser vierzigjähriger Journalist“, hat sich im Leben gerade mal so durchgeschlagen: eher ein Lloser als ein Siegertyp. Und plötzlich soll er sich als „knallharter“ Reporter für besagtes Sensationsblatt in den urbanen Dschungel von São Paulo stürzen: für eine Reportage über die Postpunk-Frauenband „Márcia Fellatio und die Vaginas Dentatas“, derzeit ganz oben in den Charts. So nimmt eine Geschichte ihren Lauf, in der aus dem dynamischen Philip Marlowe immer mehr ein Parzival wird und aus dem Krimi eine Suche nach der verlorenen Zeit.

Der Reporter erfährt, daß Márcia F., die Punklady, die Tochter von Dulce Veiga ist – jener legendären Sängerin, die ein Idol seiner eigenen Jugend war. Als blutjunger Journalist hatte er selbst einmal ein Interview mit der Diva gemacht, vor 20 Jahren, kurz bevor sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere plötzlich spurlos verschwunden war. Keiner weiß, was aus ihr geworden ist – oder jedenfalls tun alle so, als ob sie nichts wüßten. Unser Mann von der Zeitung macht sie nacheinander ausfindig: den Ehemann, einen berühmten Regisseur, der sich mit attraktiven jungen Männern tröstet; den neureichen Medien-Tycoon, eine Art brasilianischer Berlusconi, der einer von Dulces vielen Liebhabern war; die alternde Seifenopernheroine, die als ihre beste Freundin galt. Und je mehr der rasende Reporter in diesem Labyrinth von Medienmacht, Showbusineß, dunklen Drogengeschäften und Politik nach dem roten Faden sucht, desto deutlicher erkennt er, wie sehr er selbst in all diese Geschichten verstrickt ist. Seine Recherchen werden zu einer Reise in die eigene Vergangenheit, einer Proustschen „Recherche“.

Der Großstadtroman als Montage von Bibelzitaten und Gossenjargon – das gab es schon in Döblins „Berlin Alexanderplatz“. Der Großstadtalltag als eine Gegenwart, wo hinter der realen die rituelle, die mythische Zeit sichtbar wird – das war auch das Programm von Joyce' „Ulysses“. Wie Döblins Berlin ist auch sein São Paulo „Babylon, die Große“, die fallen wird. Aber wo ist er, der Stern der Hoffnung, der „Star“, der am Himmel über São Paulo aufgeht und die Sehnsucht nach „etwas anderem“ verkörpert? Der Held wird ihn finden, diesen Stern: die Stimme und den Gesang der verschwundenen Sängerin – aber erst zur „rechten“ Zeit. Die „richtige“ Zeit hinter der profanen des Alltags – das könnte die astrologische Zeit der Sternenkonstellationen sein oder die mythische des afrobrasilianischen Hermetismus; die biographische temps durée Bergsons und Prousts mystischer Augenblick der realen Gegenwart des Erinnerten. Oder die liturgische Zeit des Katholizismus, die Abreu durchscheinen läßt wie einst Joyce in seinem „Ulysses“. Genau eine Woche lang dauert die Odyssee – die Starsuche, die Gralssuche – seines Helden, und er muß erst alle Höhen und Tiefen der Karwoche durchschreiten, bis ihm der Sonntag der Auferstehung zuteil wird.

Dieser Philip Marlowe aus São Paulo ist also gar nicht der harte Bursche, als der er daherkommt. Unter der rauhen Schale und schnoddrigen Sprache verbirgt er die Wunden, die ihm das Leben geschlagen hat. Die Freundin hat ihn verlassen und ist aufs Land gezogen; die alten Freunde, inzwischen etabliert und verheiratet, sind ihm fremd geworden; und er selbst registriert bekümmert jedes graue Härchen auf seiner Brust und die Schwellungen an seinen Lymphknoten. Ja, und dann war da noch dieser Junge mit den blonden Haaren ... Ein gefallener Engel, der aus dem Dunkel kam und wieder in ihm verschwand, der Bote einer „anderen“, dunklen, tödlichen Liebe. Nein, „eigentlich“ ist unser Reporter nicht homosexuell – aber was heißt schon „eigentlich“ ... So sehr er sich auch sträubt – er muß sich auch an die Nächte mit Pedro erinnern auf seiner Suche nach der verlorenen Zeit: eine Geschichte „wie aus einem Fotoroman, einem Kitschfilm, wie aus Lateinamerika“. Der Kuß zwischen zwei Männern wird zu einem zentralen Leitmotiv des Romans, zu einer Initiation in die Lust und den Tod: als Kuß der Begierde; als Judaskuß des Verrats; als Kuß der „Versöhnung mit dem eigenen Schatten“.

Auf den ersten Blick hat Abreu so etwas wie das Drehbuch zu einem imaginären Film geschrieben, den „Low-budget-Roman“ zum B- Movie: eine Geschichte aus dem ganz normalen Wahnsinn einer modernen Metropole, hektisch, up to date und in den Modefarben der Saison. So jedenfalls haben es viele Rezensenten gesehen. Aber solch eine Lektüre ist zu eindimensional. Sie merkt nicht, daß auch für den Stil des Romans gilt: harte Schale, weicher Kern. „Ihre Falschheit war nichts anderes als ein Versuch, ihre Gefühle zu verbergen“, heißt es über Márcia F., die Punklady. Der coole Tonfall des Erzählers ist auch so ein „falscher Ton“; aber allein diese Maske erlaubt es ihm, von seiner Verzweiflung und seiner Hoffnung zu reden, ohne in den Jargon der Innerlichkeit abzudriften.

Im Text selbst stößt man immer wieder auf das Wort „Palimpsest“. Der Roman als Palimpsest: Das ist ein Text, der über andere Texte gelegt ist; eine Geschichte, hinter der ältere Geschichten sichtbar werden. Man beginnt zu begreifen: Die brasilianische Kultur ist selbst so ein Palimpsest, ein Übereinanderschichten der verschiedensten Überlieferungen und Legenden. Genau um diese Überblendung, diese Gleichzeitigkeit des Modernen und des Archaischen geht es in Abreus Roman. Er folgt hier einer verwandten Intention wie Walter Benjamin in seinem unvollendeten Buchprojekt über die Pariser Passagen. Auch dort sollten die künstlichen Bilderwelten einer kommerziellen und technisierten Moderne zum Auslöser für die traumhafte Wiederkehr des längst Vergangenen werden, zum Einfallstor für „profane Erleuchtungen“.

Nur ist der Mann aus São Paulo am Ende des 20. Jahrhunderts um einige Illusionen ärmer als die Pariser Flaneure Baudelaires oder Benjamins. Wo die großen utopischen Entwürfe verbraucht und diskreditiert wirken, sind auch die Blumen des Bösen nur noch aus Plastik. Hoffnung auf ein „einfaches Leben“ überlebt allein noch in der Trivialkultur. Abreus virtuose Parodie ihrer Formen, Motive und Klischees will sie nicht kulturkritisch als „falsches Bewußtsein“ denunzieren, sondern den utopischen Funken retten, der immer noch in ihr steckt. Wo Botho Strauß oder Peter Handke der Illusion hinterherschreiben, daß nur eine „hohe“ Sprache so etwas vermag, spürt Abreu die metaphysische Intention dort auf, wo keiner sie vermutet: im Ramsch der Alltagskultur. Im fulminanten Feuerwerk, das er aus den Bilderwelten von Kitsch und Kolportage, Camp-Ästhetik und Pop-Kultur entzündet, leuchtet für einen flüchtigen Augenblick am Himmel auf, was unsere Edelpoeten vergeblich beschwören: die Sehnsucht nach „etwas anderem“.

Caio Fernando Abreu: „Was geschah wirklich mit Dulce Veiga?“ Ein Low-budget-Roman. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Gerd Hilger. Edition diá 1994, 240 Seiten, geb., 36 Mark