Im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens

■ KZ-Aufseherin Pietzner erhielt 550 Mark Entschädigung pro Haftmonat, 400 Mark mehr als die Insassen. Wie wurde der Fall gemacht? Und was wußte Kinkel?

64.350 Mark betrug die Entschädigung, die der ehemaligen KZ-Aufseherin, Margot Pietzner als Opfer des Stalinismus von der Bundesregierung erhielt. Ein Entschädigungsfall, der nun für Aufregung sorgt: Denn der damalige Justizminister Klaus Kinkel soll den Fall persönlich gekannt und Pietzner zu einem kostenlosen Rechtsbeistand verholfen haben. Das belegen Äußerungen einiger der am Entschädigungsverfahren Pietzner Beteiligten.

Siegmar Faust vom „Dokumentationszentrum zur Untersuchung der SED-Verbrechen“ gibt an, sich 1991, als das „1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz“ vorbereitet wurde, gemeinsam mit den Vorsitzenden anderer Stalinismus-Opferverbände mit Kinkel getroffen und ihm persönlich den Fall der KZ-Aufseherin vorgetragen zu haben. Faust: „Er (Kinkel, die Red.) hat mir einen Rechtsanwalt besorgt, der solche komplizierten Fälle prüft, sich ihrer annimmt und verteidigt. Denn wir wußten ja, das können wir gar nicht bezahlen.“ Faust hält das bis heute für eine „große Geste“ des Ministers. Für ihn besaß der Fall Pietzner vor allem exemplarische Funktion. Gelänge es, die ehemalige SS-Aufseherin zu entschädigen, so argumentierte er, würde auch anderen aus ihrer Generation späte Genugtuung widerfahren.

Es gelang. Als „große Enttäuschung“ registrierten Siegmar Faust und die Vorsitzenden anderer Opferverbände allerdings, daß das Bundesjustizministerium (BMJ) in anderen Fällen nicht aktiv wurde. Andere Vorschläge habe Klaus Kinkel so behandelt, „als hätte das Gespräch mit uns nicht stattgefunden“.

Konfrontiert mit diesen Aussagen, erklärte der Sprecher des Justizministeriums, Matthias Weckerling, gegenüber der taz: „Anhaltspunkte für die behauptete persönliche Beteiligung des damaligen Bundesjustizministeriums Kinkel gibt es nicht.“

Der Bundesjustizminister hätte lediglich auf dem Deutschen Anwaltstag 1991 in Düsseldorf dafür geworben, „sozial schwache Verfolgte des SED-Regimes in Rehabilitierungsfragen kostenlos zu vertreten“. Daraufhin habe sich ein Rechtsanwalt namens Kienitz an Kinkel gewandt und darum gebeten, ihm entsprechende Fälle zu benennen. Das sei vom Bundesjustizminister jedoch aus „Rechtsgründen“ abgelehnt worden. Er habe den Rechtsanwalt auf die Verbände der Verfolgten des Stalinismus verwiesen. Diese hätten Kienitz dann konkrete Entschädigungsfälle zugetragen. Demgegenüber erklärt Rechtsanwalt Kienitz in einem der taz vorliegenden Schreiben an Margot Pietzner, er habe sich „auf Anregung des Bundesministers der Justiz, Dr. Kinkel“, bereit erklärt, „unentgeltlich Ihre Rehabilitation zu betreiben“.

Das BMJ, sagt Kienitz, habe ihm zum Fall Pietzner eine dreiseitige Stellungnahme zugeschickt. In dieser Sachdarstellung ist von einer „angeblichen“ KZ-Aufseherin die Rede, die in der als Außenstelle des KZ Ravensbrück „geführten“ Flugzeugfabrik zur Beaufsichtigung von „Zwangsarbeitern“ „zwangsverpflichtet“ wurde. Auch wird behauptet, daß hier „die Ausschließungsgründe“ bezüglich der Entschädigung „sehr sorgfältig geprüft worden“ wären. Das Ergebnis sei immer negativ gewesen.

Peter Ziegler, Chef der Berliner „Stiftung für ehemalige politische Häftlinge“, die für den Entschädigungsfall Pietzner zuständig ist, erklärt ebenfalls, man habe den Fall Pietzner „im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens“ entschieden. Nach dem Kommentar zum Häftlingshilfegesetz, schließt jedoch „eine Tätigkeit in der Gestapo oder in der SS (...) Entschädigungsleistungen regelmäßig aus“. Auf den Gehaltslisten der SS, die die „Stiftung“ in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Ravensbrück hätte einsehen können, ist die „angebliche“ KZ-Aufseherin Margot Pietzner jedoch ausdrücklich verzeichnet. Die SS-Zugehörigkeit war für Ziegler kein Ausschließungsgrund. Und so tauchen folgerichtig die beiden Buchstaben „SS“ in der Sachdarstellung des BMJ, das sich im Fall Pietzner die Rechtsauffassung der „Stiftung“ zu eigen gemacht hat, nicht ein einziges Mal auf.

Zur Zeit ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen einen „Stiftungs“-Angestellten wegen Vorteilsannahme. Laut Pietzner hat sie ihm, in Abstimmung mit Ursula Popiolek, Leiterin der „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus“ in Berlin, 1.000 Mark zugesteckt.

Solange Margot Pietzner nicht wisse, so sagt sie, ob ihr die Entschädigung rechtmäßig zustehe, will sie für sich persönlich nichts davon haben. Sie ist die einzige, die nie verschwiegen hat, daß sie SS- Aufseherin war. Ihr Süppchen haben im Fall Pietzner andere gekocht.

Ausgerechnet die für ihre Entschädigung Verantwortlichen drohen jetzt: „Sollte sich noch herausstellen, daß die Betroffene Zwangsarbeiter mißhandelt hat, oder durch ihr sonstiges Verhalten die Ausschließungsgründe erfüllt, wird die Kapitalentschädigung zurückgefordert. Außerdem wird die Stiftung dann Strafanzeige wegen Betrugs erstatten.

550 Mark hat die KZ-Aufseherin Pietzner je Haftmonat bekommen. Darüber ist Gertrud Müller von der Lagergemeinschaft Ravensbrück empört: „Einige von uns kämpfen heute noch um ihre 150 Mark.“ Lediglich dieser Betrag steht den Opfern des Nationalsozialismus laut Bundesentschädigungsgesetz je Haftmonat zu. Aber nicht allen. Gertrud Müller: „Die Roma und Sinti haben bis heute nichts bekommen.“ Die Lagergemeinschaft habe den Fall der entschädigten KZ-Aufseherin schon vor Monaten in einem Schreiben an alle Parteien im Bundestag mitgeteilt. Eine Reaktion darauf steht bis heute aus. Andreas Schreier