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■ GastkommentarSabbatjahr statt „Sozialhilfebetrug“ des Landes Bremen oder die wahren Totengräber der Selbstständigkeit

Während Rudolf Scharping in Bonn bemüht ist, den kleinen Sozialhilfeempfänger pauschal zu diffamieren und auszugrenzen, begeht unter seinen Augen ein mehrheitlich sozialdemokratisch geführtes Bundesland einen „Sozialhilfebetrug“ ganz anderer Größenordnung. Als „Hilfe zum Leben“ hat Bremen zwecks Teilentschuldung 1,8 Milliarden Mark pro Jahr aus Bonn erstritten, um die Schuldenspirale (über 17 Milliarden 1993) verlassen zu können und nach fünf Jahren aus eigenen Steuereinnahmen wieder lebensfähig zu sein. Soweit die Angaben und Erklärungen bei Antragstellung. Spätestens heute wird jedoch deutlich, daß die Verwendung dieser Zuwendungen in den Haushalten 1994-98 bei lediglich geringfügigen Sparsummen von 200-300 Millionen im Jahr dazu führen wird, daß Bremen sich 1998 genau am Ausgangspunkt wiederfinden wird. Wohl wissend, daß unter diesen Bedingungen die Förderung weder beantragt, noch bewilligt worden war, sollen dennoch die Bonner Milliarden auch weiterhin zur Deckung des Bremer Haushaltes Verwendung finden. Selbst Außenstehende wie Prof. Hickel attestieren, daß bestenfalls der Status quo gehalten werden könne und mahnen Ehrlichkeit in der Sache an. Denn auch die größten Optimisten erwarten keine Steuerzuwächse in Milliardenhöhe pro Jahr, die das milliardenschwere Prinzip der WAPs, ISPs und Schattenhaushalte annähernd rechtfertigen würden. Ausgerechnet ein Ampelsenat unternimmt hier den durchsichtigen Versuch, ohne jede Erfolgsausicht in der Sache, ganz einseitig Milliarden Mark in Richtung Wirtschaft zu wälzen, während eine Vielzahl von sozialen und kulturellen Einrichtungen die Segel streichen muß.

Aber damit nicht genug! Selbst gewinnbringender kommunaler Besitz wie die Stadtwerke sollen zur Deckung von aufgelaufenen Schattenhaushalten aus Wirtschaftsförderungsmaßnahmen zur Veräußerung anstehen. Eine Maßnahme, die spätestens beim Verlust der Selbstständigkeit einen gravierenden Nachteil für die Kommune darstellen wird.

So sitzt Politik wie das Kaninchen vor der Schlange, flüchtet sich in wahrheitsfremde Hoffnungen von Wachstum, versilbert ohne echte Zukunftsperspektive alles, was auf die Schnelle Geld bringen könnte (jetzt sind auch die Gewoba und der Flughafen im Gespräch) oder ergeht sich in nächtelangen Gespensterdiskussionen um, im Verhältnis, marginale Sparsummen.

Wie wäre es denn, einmal mit den echten Kostenfaktoren zu beginnen, statt immer wieder die Schwächsten zu treffen? Wie wäre es denn mit dem Volkswagenmodell für den öffentlichen Dienst? Was ist mit der Neustrukturierung und generellen Verschlankung des Apparats, damit die Arbeit trotzdem läuft (bei knapp 2 Milliarden Kosten ergäben sich Einsparungen von Hunderten von Millionen)?

Was wäre mit dem Sabbatjahr für alle – auch für die Beschäftigten im gewerblichen Sektor? Nach neun Jahren Arbeit ein Jahr frei, in dem man in den Genuß der Arbeitslosenversicherung käme. Der Arbeitsmarkt bräuchte 1/10 mehr Arbeitskräfte, die er sicherlich zum Teil auch aus dem Potential der Sozialhilfeempfänger ziehen würde. Kostenneutral für die Arbeitgeber, menschlich wertvoll für den einzelnen, Spareffekte für die Kommune. Selbst die Gewerkschaften erklären seit Jahr und Tag, daß die vorhandene Arbeit anders verteilt werden müsse und daß Arbeitszeitverkürzung das probate Mittel sei.

Wenn Politik nicht mehr in der Lage ist, Probleme tatsächlich anzupacken und zu lösen, dann wird sie zu Recht weiter an Vertrauen und Autorität verlieren. Kurzum, die schwierige Situation des Bundeslandes Bremen verlangt von Politik, den Blick zu heben, um mit Mut und Konfliktbereitschaft innovativ zu sein und auch außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen, sonst werden gerade jene, die sich zu den Gralshütern der Selbstständigkeit erklärt haben, ihre wahren Totengräber. Dabei stünde es ihr gut zu Gesicht, bei sich selbst zu beginnen mit einer Verkleinerung von Parlament und Senat! Allein, mir fehlt der Glaube! Gerade die unübersehbare Unbeweglichkeit in dieser Frage – auch in der Opposition – nährt die Vermutung, daß man bemüht ist, wenigstens die eigenen Pfründe in trockene Tücher zu bringen, solange es noch geht. Hucky Heck

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