Jodelnder Revolutionskrämer

Gesichter der Großtstadt: Hans-Georg Lindenau / Das linke Fossil der Kreuzberger Szene betreibt einen Gemischtwarenladen für Revolutionsbedarf  ■ Von Ulf Mailänder

Wie andere ihre angesparten Urlaubstage, so zählt Hans-Georg Lindenau seine Durchsuchungen. Auf achtunddreißig sei er bisher gekommen, erzählt er mit breitem Grinsen, als handele es sich bei einer Razzia um eine öffentliche Auszeichnung.

Seine selbstverfaßten Flugblätter in eigener Sache füllen Ordner, ganz zu schweigen von den Bergen aus Ermittlungsakten und Observationsberichten, die in den Archiven von Polizei und Justiz unter seinem Namen geführt werden. Wo andere schon lange „eingefahren“ wären, bleibt Hans-Georg Lindenau dank abenteuerlicher Schlampereien seitens der Behörden und glückhafter Verkettungen von Umständen stets auf freiem Fuß.

Zweifellos, Lindenau ist ein linkes Fossil – und ein Local hero der „revolutionären“ Szene in jenem legendären Berliner Stadtteil, der in Insiderkreisen ungeachtet aller postalischen Desinformationsstrategien immer noch 36 heißt.

Das Leben in solch exponierter Stellung ist keineswegs leicht; man wird beneidet, verdächtigt und als Ladeninhaber sogar beklaut.

In der „M 99“ gibt es alles, was das revolutionäre Herz begehrt: Hemden, T-Shirts, Kapuzenpullis mit revolutionären Parolen, Sticker, Aufkleber, vermummungsfähige Motorradhäubchen in Sommer- und Winterausführung, Bücher, Broschüren und Fotokopien. Ein so reichhaltiges Angebot an politischer Untergrundliteratur wie hier sucht man anderswo vergebens.

Dieser „Gemischtwarenhandel für Revolutionsbedarf“ ist jedoch nur die Basisstation eines fliegenden Büchertischs, der bei einschlägigen Veranstaltungen der vielfach totgesagten autonomen Szene zur festen Institution zählt. Besonders beliebt ist Hans-Georg Lindenau in der schwärzesten bayerischen Provinz. Nirgendwo sonst macht sich der Einsatz so gut bezahlt, ist der Absatz so reißend.

Neben der Ideologie muß auch der Umsatz stimmen, damit der nagelneue Lieferwagen bezahlt und Anwälte honoriert werden können und für diverse Politspesen und Solidaritätsaktionen auch noch ein paar Mark übrig sind. Immerhin haben sich im Lauf der Jahre runde 100.000 Mark Beschlagnahmungskosten angesammelt. Lindenau legt Wert auf die Feststellung, daß Kommerz nur Mittel zum Zweck ist.

Aufgrund seines entwickelten Geschäftssinns und seiner überdurchschnittlichen Intelligenz gilt er bei einigen in der Szene wahlweise als „Spitzel“ (weil er trotz seiner vielen Verfahren noch nicht sitzt) oder als „Kapischwein“. Wegen rapide zunehmenden Ladendiebstahls in seinem verwinkelten Laden sah sich Hans-Georg Lindenau gezwungen, die Flucht in die Übersichtlichkeit anzutreten und mit seinem Laden ein paar Häuser weiter in die Manteuffelstraße Richtung Görlitzer Bahnhof zu ziehen.

Wäre das früher passiert, hätte sein Ex-Vermieter sein Haus vielleicht nicht so schnell wieder abgestoßen. Entnervt von hartnäckigen Kampagnen wegen Moderniesierungsbetrug (mit Stellwänden vor dem Haus und sogenannten „Spekulantenklatschbriefen“), juristischen Verzwickungen und persönlichen Villenbesuchen (Lindenau im Rollstuhl mit der Kamera im Anschlag) gab er schließlich auf und verkaufte.

Halbvergessene Mythen aus den 80er Jahren

Der neue Laden ist rollstuhlgerecht. Bis vor wenigen Monaten war das wichtig, jetzt läuft er jedoch schon wieder auf Krücken. Seit Hans-Georg Lindenau 1988 vom Kirchtum des Lausitzer Platzes sprang, ist er von den Leisten abwärts querschnittsgelähmt. Sechs Wochen lag er im Koma, die Beerdigung war schon organisiert, doch er schaffte es allen Voraussagen zum Trotz. Über Mangel an Vitalität kann er nicht klagen. Vielleicht wirft er eines Tages auch die Krücken noch weg.

Wenn es besonders brenzlig wird oder er sich ausgelassen fühlt, fängt Hans-Georg Lindenau einfach an zu jodeln. Zwischen zwei Jodelrufen noch schnell eine Anekdote erzählen, da ist er in seinem Element. Wie war das noch mit den 300 Kellerschlüsseln, von denen keiner paßte? Ach ja, die Geschichte mit den Raubdruckauflagen, die ihm nicht zugeordnet werden konnten. Als 19jähriger bei der Besetzung der Schrippenkirche 1978 im Lodenmantel schon als Spitzel verdächtigt, dann als Provokateur im KuKuCK und mutmaßlicher Rädelsführer der Raubdruckszene verschrieen, die Mauerflucht von West nach Ost mitorganisiert – aber wer kennt heute noch das Kubat-Dreieck? Keine Atempause – Lindenau war dabei.

Seine Geschichten handeln von halbvergessenen Mythen aus dem Berlin der achtziger Jahre. Und damit sie der Nachwelt in Erinnerung bleiben, arbeitet er schon jetzt an seiner Autobiographie.