Es geht immer nur bergab Von Ralf Sotscheck

Als Mick die Bremsen löste, rollte der Bus langsam den Hügel hinunter. „Verdammt, wieder nichts“, ärgerte sich Gerry, „probieren wir es noch mal hundert Meter weiter.“ Das gleiche Spiel: Mick stellte den Motor ab, nahm den Fuß von der Bremse, und der Reisebus setzte sich bergab in Bewegung. Hinter der nächsten Kurve war es genauso, und auch am nächsten Abhang rollte der Bus mit abgestelltem Motor unweigerlich talwärts. Was sollte er auch sonst tun, werden Sie sich fragen. Nun – er sollte rückwärts den Hügel hinaufrollen, behauptete Gerry, denn irgendwo in der Nähe befände sich ein „Electric Brae“.

Das Wort „Brae“ kommt aus dem Schottischen und bedeutet Hügel oder Abhang. Durch obskure elektrische Felder werden Busse, Autos, Lastwagen und Fahrräder angeblich den Hügel hinaufgezogen. Selbst das Wasser im Fluß neben der Straße soll bergauf fließen. Agnostische Zeitgenossen erklären das Phänomen mit einer optischen Täuschung: Es habe lediglich den Anschein, daß es bergauf gehe, doch tatsächlich gebe es ein leichtes Gefälle. An dieser Stelle möchte ich die katholischen LeserInnen bitten, von Protestbriefen ausnahmsweise abzusehen: Ich bestreite nicht, daß Gott Kraftfahrzeuge und Fahrräder einen Hügel hochkullern lassen könnte, wenn Er wollte – aber Er wollte offenbar nicht, daß Gerry die Stelle fand.

Gerry ist bei der Irischen Fremdenverkehrszentrale angestellt. Er hatte rund ein Dutzend Korrespondenten aus aller Welt auf eine Rundfahrt eingeladen, damit wir die Vorzüge der Grünen Insel im Winter kennenlernten. Wir waren auf dem Weg zum Carlingford Lough, einer Bucht, deren Name auf die Wikinger zurückgeht und „Fjord der alten Hexen“ bedeutet. Am Südufer liegen die Carlingford Mountains, die jedoch „Cooley Mountains“ genannt werden, weil sich dort das Grab des Finn Mac Cool befindet, einem Krieger aus der irischen Mythologie.

Der „Electric Brae“ gehöre aber nicht ins Reich der Mythologie, versicherte Gerry. Ein alter Mann, der sich mit seinem Auto auf der schmalen Landstraße am Bus vorbeizwängen wollte, bestätigte die Existenz der Stelle, meinte aber, wir seien schon eine halbe Meile zu weit. Das Wendemanöver erwies sich als schwierig. Mick setzte langsam in einen Waldweg zurück, worauf der schottische Kollege sarkastisch rief: „Es funktioniert, wir rollen rückwärts den Berg hinauf.“ Gerry sah ihn voller Verachtung an. Als wir in die Nähe der Stelle kamen, die der Alte beschrieben hatte, ließ Gerry uns aus dem Bus steigen, damit wir überprüfen konnten, ob es sich um einen Hügel oder einen Abhang handelte. „Gerry, hier hättest du nicht anhalten dürfen“, meinte Allan, der neuseeländische Kollege. „Du hast vorhin behauptet, Irland sei das sauberste Land Europas. Jetzt guck mal hier über die Hecke.“ Die Böschung hinter der Hecke war mit Hunderten von Müllsäcken bedeckt, die zum Teil aufgeplatzt waren und einen erbärmlichen Gestank verbreiteten. „Aber nein, Allan“, erklärte Gerry schlagfertig, „das ist unser neuseeländischer Folklore-Park.“

Wie Michael vom Belfaster Telegraph zwanzig Pfund beim Pferderennen verlor, weil der Gaul, auf den er gesetzt hatte, unterwegs erschossen wurde – dazu nächste Woche.