„Keen Bock auf Gequatsche“

Durch ein Unentschieden gegen Europameister Seillier verpaßt Graciano Rocchigiani seine „letzte Chance“ und wartet auf die nächste  ■ Aus Berlin Matti Lieske

„Det is' doch Beschiß“, tobte Wolfgang Wilke und stapfte wütend in die Kabine. Zum zweitenmal in diesem Jahr hatte der von ihm betreute Graciano Rocchigiani knapp die Chance verpaßt, fünf Jahre nach der freiwillig-unfreiwilligen Niederlegung seines Weltmeistertitels einen neuen großen Coup zu landen. Nach der vom Rocchigiani-Lager als zutiefst ungerecht empfundenen Niederlage im WM-Kampf gegen den smarten Briten Chris Eubank mißlang dem 30jährigen Berliner nun auch der Griff nach vermeintlich leichter Beute. Gegen den bislang nicht sonderlich aufgefallenen Europameister Frédéric Seillier reichte es nur zu einem Unentschieden, wodurch der Franzose nicht nur den Titel verteidigte, sondern auch das Recht, den englischen WBC- Weltmeister Nigel Benn herauszufordern.

„Ich glaube, daß ich gewonnen habe“, sagte Graciano Rocchigiani trotzig nach dem Fight und bezichtigte seinen gleichaltrigen Gegner des „Schattenboxens“. Die meisten der 4.000 Zuschauer im nicht ganz ausverkauften Sportforum Hohenschönhausen waren dieser Meinung nicht. Das obligatorische Pfeifkonzert nach der Urteilsverkündung fiel extrem kurz aus, wie schon gegen Eubank hatte Rocchigiani zu wenig getan, um den amtierenden Champion zu entthronen. Selten wechselt im Profiboxen ein Titel durch ein knappes Punkturteil, um den Bonus des Meisters wettzumachen, bedarf es in der Regel schon eines K.o.-Erfolges oder zumindest einer deutlichen Überlegenheit. „Wenn man einen Titel haben will, muß man ihn sich holen“, sagte Seilliers Trainer voller Genugtuung darüber, daß der Herausforderer genau dies versäumt hatte.

„Ich will den Fans im Osten zeigen, daß es auch noch etwas anderes als Henry Maske gibt“, hatte Rocchigiani, dessen prototypische Boxerkarriere mit ihren Höhen und Tiefen den genauen Gegensatz zu der des kreuzbraven, erzvernünftigen und ultra-coolen Ex- Leutnants der Volksarmee darstellt, zuvor gesagt, doch er begann genauso vorsichtig wie es sein ungeliebter Kollege aus Frankfurt (Oder) zu tun pflegt. Zu den getragenen Klängen von „Empty Spaces“ war Rocchigiani, diesmal ohne Schwarzrotgold im Igelhaar, in den Ring gestiegen, doch der erwies sich unglücklicherweise keinesfalls als leerer Raum. Okkupiert war er vom kompakten Seillier, der „There's no easy way out of here“ als musikalische Einstimmung gewählt hatte und entsprechend begann. Erstmals im Ausland am Start, legte er mit Volldampf los und hatte im Handumdrehen die ersten Runden gegen den verblüfften Berliner gewonnen. Von der 5. Runde an dominierte jedoch Rocchigiani, der eindeutig der bessere Boxer war und einem sicheren Sieg entgegenzusteuern schien, bis er sich in Runde neun einen rechten Konter einhandelte, welcher manch anderen von den Beinen geholt hätte. Der Sohn eines sardischen Eisenbiegers, der sich in seinen 38 Profikämpfen bislang selten am Boden befunden und nur den Eubank-Kampf verloren hatte, blieb zwar stehen, doch die Kraft entwich aus seinem Körper, als habe jemand den Stöpsel gezogen. Wie ein Sack plumpste Graciano Rocchigiani nach dem Gong auf den Hocker in der Ecke, während er in den Pausen zuvor noch provokant im Ring herumgetänzelt war.

Obwohl er sich wieder einigermaßen erholte, wußte er, daß ihm die Felle davonschwammen und es bedurfte schon einer lautstarken Gardinenpredigt seines Coaches („Nein, du verlierst den Kampf nicht“), um den resignierenden Berliner zu einer Art Endspurt zu veranlassen, mit dem er den konditionsstarken Franzosen aber nicht mehr in Schwierigkeiten bringen konnte.

Nach dem unverhofften Debakel gegen den eindeutig unterschätzten Europameister rang Rocchigianis Manager Klaus-Peter Kohl sichtlich um Fassung, beteuerte, daß er „rein gefühlsmäßig“ seinen Schützling als Sieger gesehen habe und ließ sich ausgiebig über eine angeblich verbotene, aber sichergestellte Salbe aus, die in Seilliers Ecke benutzt worden sein soll. „Lächerlich“, kanzelte Rocchigiani Kohls Versuche, den Franzosen am Zeug zu flicken, in bewährt offenherziger Manier ab, hatte aber ansonsten wie üblich „keen Bock auf Gequatsche“, über den Kampf. Alle hätten ihn ja schließlich gesehen.

Keine Rede mehr war von der „letzten Chance“ (Rocchigiani), die der EM-Kampf für den 30jährigen angeblich darstellte. Den lukrativen WM-Kampf gegen Nigel Benn, dessen Manager man voller Optimismus nach Hohenschönhausen geladen hatte, hat Kohl keineswegs abgeschrieben, andererseits gelüstet es ihn verschärft nach der Revanche mit dem geschäftstüchtigen Box-Dandy Chris Eubank, der seinen WM-Gürtel am Samstag souverän verteidigte und einem weiteren großen Zahltag in Berlin keineswegs abgeneigt sein dürfte.

Der Name Henry Maske wurde peinlichst vermieden, aber vielleicht kommt es eines Tages ja doch noch zum seit Jahren mit Verve beschworenen Duell der beiden Antagonisten. Irgendwann in ferner Zukunft, wenn sich der unverwüstliche Graciano Rocchigiani im ehrwürdigen Foreman- Alter anschickt, seine allerletzte Chance wahrzunehmen. Es sei denn, er hat vorher mal wieder „keen Bock“ mehr.