Meilenstein der großen Zahlen

Auf dem Essener Gipfel hat die EU den Osteuropäern die Länge ihres Weges zum Beitritt verdeutlicht / Gewinner ist das Europaparlament  ■ Aus Essen Alois Berger

Dabeisein ist doch nicht alles. Bei der abschließenden Siegerehrung in der Blumen- und Fahnen- geschmückten Grugahalle, wo sonst Tussem Essen Handball spielt und Grönemeier darauf hinweist, daß Männer so zerbrechlich sind, empfahl Bundeskanzler Helmut Kohl den sechs mittel- und osteuropäischen Regierungschefs „realistischen Optimismus“ für ihren Weg in die Europäische Union. Die hatten sich eigentlich mehr erwartet, waren sie doch nach langem Hin und Her vom derzeit amtierenden EU-Ratspräsidenten Helmut Kohl eigens nach Essen eingeladen worden.

Die eigentlichen Gewinner des EU-Gipfels sind vier Länder, die gar nicht vertreten waren. Die Europäische Union will die Assoziierungsverhandlungen mit Slowenien, Estland, Lettland und Litauen noch im nächsten halben Jahr abschließen und dann über ihre Beitrittsfähigkeit nachdenken. Spätestens 1997 werden sie im selben Vorzimmer sitzen wie Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Bulgarien und Rumänien.

Dann werden die Startpositionen neu verteilt, denn Slowenien beispielsweise erfüllt die Voraussetzungen bereits heute in mehr Disziplinen als die Slowakei oder Polen, von Rumänien und Bulgarien ganz zu schweigen. Bei der Privatisierung der ehemaligen Staatsbetriebe etwa liegt Slowenien knapp hinter dem klar führenden Tschechien.

Vor 1997 wird sich ohnehin nicht viel bewegen. Die Europäische Union muß sich erst selbst reformieren. Bevor die Gemeinschaft der zwölf — und ab 1. Januar der fünfzehn — neue Mitglieder verkraftet, müßten die Entscheidungsgremien umgebaut und gestrafft werden, darüber waren sich die Staats- und Regierungschefs erstaunlich einig. Zur Zeit sei die Union nicht erweiterungsfähig. Ohne eine Änderung der Abstimmungsregeln beispielsweise, würde sich ein Ministerrat mit zwanzig und mehr Mitgliedern noch öfter in ausweglosem Streit verrennen, als das schon in der Vergangenheit der Fall war. Bei der für 1996 geplanten Regierungskonferenz, einer Art Maastricht II, sollen diese Fragen gelöst werden, aber es ist heute schon klar, daß sich einige Länder, vor allem Großbritannien, gegen eine Straffung und Aufwertung der zentralen Entscheidungsgremien stemmen werden.

Der Meilenstein auf dem Weg in die Europäische Union, der den sechs mittel- und osteuropäischen Staaten versprochen worden war, wurde in Essen mit ziemlich großen Zahlen beschriftet. Selten wurde so deutlich, wie lange sich diese Länder noch auf dem Nebenplatz abmühen sollen. Auf ein Datum für den Anpfiff der Aufnahmeverhandlungen wurde verzichtet, der Abschluß und somit Beitritt zur EU wird ohnehin von Land zu Land unterschiedlich sein. Unter der Hand wird für Tschechien, dem Gewinner der bisherigen Qualifikationsrunden, ein EU- Eintritt zwischen 2003 und 2007 genannt.

Auf Anregung des neuen Präsidenten des Europaparlaments, Klaus Hänsch, wird die Vorbereitung der Beitrittskandidaten stärker auf die Bereiche Innen- und Außenpolitik ausgedehnt. Die für den Verwaltungskram zuständige Europäische Kommission bekam von den Staats- und Regierungschefs den formellen Auftrag, bis zum Juni ein Weißbuch auszuarbeiten, in dem aufgelistet ist, was in den einzelnen Kandidatenländern zu verändern ist, damit sie in die Europäische Union passen.

Bei Diskussion um die Osterweiterung wurde übrigens deutlich, wer noch zu den Gewinnern des Essener EU-Gipfels gehört: Noch nie wurde der Abgesandte des Europaparlaments so ernst genommen. Während bei früheren Gipfeln die Ansprache des Parlamentspräsidenten allenfalls zur Folklore gehörte, wurde die Rede von Klaus Hänsch nicht nur mehrfach von den Regierungschefs zitiert, einige Forderungen des Europaparlaments fanden sich später sogar im Abschlußdokument wieder. Wenig Erfolg hatte Hänsch allerdings mit seinem Bemühen, die Beschäftigungspolitik in den Mittelpunkt der EU zu rücken. Wenn die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf europäischer Ebene nicht bis 1996 erste sichtbare Erfolge bringe, wetterte er, könne man die Regierungskonferenz vergessen. Niemand werde sich dann für den Umbau der Europäsischen Institutionen interessieren.

Doch die Mehrheit der Gipfelrunde sperrte sich gegen eine großzügigere Finanzierung der von der Kommission vorgeschlagenen Verkehrs- und Energienetze, die sowohl den Wirtschaftsstandort Europa attraktiver machen als auch einen Beschäftigungsschub auslösen sollen. Der Großteil der rund 300 Milliarden Mark teuren Projekte soll von Privatinvestoren aufgebracht werden. Aber die stehen nicht gerade Schlange, es fehlen noch ziemlich viele Milliarden. Die Staats- und Regierungschefs wollen deshalb im EU-Haushalt 2,4 Milliarden Mark locker machen, verteilt auf fünf Jahre. Fast ein Prozent der Gesamtsumme.