Die „Opfer“ des angeblichen Opfers

Die „Gedenkbibilothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus“ diskutierte ihre Mitwisserschaft im Fall der als SED-Opfer entschädigten früheren KZ-Aufseherin Margot Kunz-Pietzner  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Es blitzte und donnerte am Freitag abend in der „Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus“ aber nach drei Stunden Gewitter war die Atmosphäre fast genauso gespannt wie zu Beginn. Auf der Tagesordnung der außerordentlichen Mitgliederversammlung standen die Vorkommnisse um die mit 64.350 Mark als Opfer des Stalinismus entschädigte ehemalige KZ-Aufseherin Margot Kunz-Pietzner (taz vom 1. und 10. Dezember). Wer hatte wieviel gewußt, sich trotz SS-Zugehörigkeit für Margot Pietzner eingesetzt, und haben sich Mitarbeiter der Bibliothek finanziell von ihr korrumpieren lassen?

Besonders exponiert: Ursula Popiolek, Vorstandsmitglied und Leiterin der Bibliothek, sowie Siegmar Faust, früher Vizepräsident des „Dokumentationszentrums für die Aufklärung von SED-Verbrechen“, seit Mai ebenfalls Vorstandsmitglied. Beide legten nach persönlichen Erklärungen ihr Mandat nieder. Mit zitternder Stimme las Ursula Popiolek vom Blatt ab, daß sie sich von Margot Pietzner „belogen und betrogen“ fühle. Sie räumte aber auch ein, daß sie die ersten Hinweise auf Margot Pietzners NS-Vergangenheit aus dem Jahre 1991 nicht ernst genug genommen habe. Das Mitleid mit Pietzners Nachkriegsschicksal – insgesamt zehn Jahre Haft – habe überwogen. „Ich war zu leichtgläubig“, sagte die mit der Opferbetreuung doch so erfahrene Bibliotheksleiterin. Doch unverzeihlich im Nachhinein sei es, 15.000 Mark (plus 5.000 Mark für ihren Sohn) angenommen zu haben. Sie habe das Geld als rein „privates Geschenk“ begriffen, da Frau Pietzner wochenlang bei ihr gewohnt, gegessen, sogar ihre Kleider getragen habe.

Auch Siegmar Faust, Initiator des Haftentschädigungsverfahrens, übte Selbstkritik. „Ich glaubte, Frau Pietzner sei unschuldig. Jetzt stehe ich wie ein Hehler und Sympathisant des NS-Systems da.“ Auch er hatte 7.000 Mark angenommen, „ein Geschenk aus Liebe und Dankbarkeit“.

Rundherum also eine böse Geschichte, die am Freitag nicht besser dadurch wurde, daß die Protagonisten sich als getäuschte Gutgläubige, darstellten. Ihre Fahrlässigkeit im Umgang mit Lebensgeschichten und ihre Bereitschaft, Bedenken wegzuwischen, sind dazu angetan, nicht nur die Gedenkbibliothek ins Zwielicht zu setzen, sondern das ganze Verfahren um Entschädigung von politischen Häftlingen des SED-Regimes überhaupt.

Dementsprechend emotional verlief die von etwa 50 Menschen besuchte Debatte, darunter viele Mitglieder vom „Bund der Stalinistisch Verfolgten“. Obwohl keiner von ihnen Verständnis für die Geldgeschenke zeigte und immer wieder betont wurde, daß sie mit Nazitätern nichts gemein haben, überwog doch bei der Mehrheit das Bedürfnis, die ganze Angelegenheit als „menschliche Fehlleistung“ abzubuchen. Für das Debakel suchten sie Schuldige und fanden sie: Margot Pietzner, die im Nachhinein zu einem wahren KZ- Monster stilisiert wurde, eine NS- Forscherin, die sie mit warmen Worten der Bibliothek empfohlen habe, und die taz als Überbringerin der schlechten Nachrichten.

Mit Zwischenrufen und Beifallsbekundungen kräftig dabei, mindestens vier Mitglieder des rechtsaußen stehenden „Vereins für psycholgische Menschenführung“ (VPM), teilweise identisch mit dem Arbeitskreis der internierten Frauen aus Sachsenhausen. Als Bärbel Bohley und Annegret Gollin erklärten, daß die Bibliothek nicht erst mit dem Fall Pietzner in die Krise gerutscht, sondern dies ein Ergebnis jahrelanger politischer Richtungskämpfe sei – „wir wurden doch systematisch ausgegrenzt“ – konterte eine von ihnen, „die sind ja krank im Kopf“.

Irritierend auch der Diskussionsbeitrag des für Pietzner zuständigen Sachbearbeiters in der „Stiftung politische Häftlinge“, Herr Krause. Er erzählte den Fall seines „Kollegen“, der von Frau Pietzner zu Unrecht beschuldigt werde, 1.000 Mark kassiert zu haben. Mit keinem Wort erwähnte er, daß er selbst der Beschuldigte ist, und daß die Staatsanwaltschaft gegen ihn wegen des Verdachts auf Vorteilsnahme ermittelt. Mit nachweislichen Lügen – „Nie habe ich Frau Pietzner geschrieben!“ – versuchte er die Wahrheitsfindung zu verhindern.

Ob die entsetzten Gründer der Bibliothek, die Bürgerrechtler vom Neuen Forum noch weiter mitmachen, war nach dieser Veranstaltung mehr als ungewiß. Annegret Gollin: „Ich resigniere.“ Kein leichter Anfang für einen eventuellen Neubeginn. Bis Januar leiten Rolf Leonhard und Wolfgang Templin die Amtsgeschäfte, dann sollen neue Vorstandsmitglieder und eine „Aufarbeitungskommission“ gewählt werden.