Vergangenheit als mildes Spektakel

■ John Neumeier choreografierte die 9. Sinfonie von Gustav Mahler Von Gabriele Wittmann

Das Programmheft versprach Entsetzliches: Peter Schmidt, Designer für Jil Sander und Esteé Lauder, entwirft ein Bühnenbild für John Neumeier. Sofort entstanden Assoziationen von der kühlen Werbe-Ästhetik, die schon das letzte Neumeier-Stück prägte. Und dann eine Mahler-Sinfonie: Wie kann man nur als Wiederholungstäter auf die Idee kommen, diese großen, in sich abgeschlossenen Musikwerke noch mit Tanz auszustopfen? Und dann der Titel: Zwischenräume nennt der Choreograph sein Ballett und zitiert Mahler, der nach Vollendung seiner Sinfonie über die Gegenwart gesagt hat, sie sei ein „Durchgangsort“ für das Bewußtsein des Menschen.

Doch Zwischenräume ist tatsächlich ein Werk, das die abstrakten intellektuellen Ansprüche des Maestros erfüllt. Es ist ein Spätwerk, dem alle Ecken und Kanten fehlen. Statt der pubertären Beziehungskämpfe in den früheren Mahler-Balletten geht es wirklich einmal um das „Menschliche“, das Neumeier so oft beschworen hat. Hier hat er etwas ganz Uneitles geschaffen, etwas, das konfliktlos ist, fast banal. Aber ehrlich. Und genau deshalb ist es gelungen.

Das Bühnenbild spiegelt die Aufteilung des viersätzigen Orchesterwerkes: Blauer Mond und blaue Erde vom Weltall aus betrachtet. Ein entrückter Blick auf uns selbst erwartet den Zuschauer bei den langsamen Sätzen, die das Werk umrahmen. Die beiden schnelleren Sätze – bei Mahler ein „gemächlicher Ländler, etwas täppisch und sehr derb“, eine Burleske und ein „sehr trotziges Allegro“ – werden zum Abbild des närrischen Alltagslebens vor einem Schmalspur-Highway, der geradewegs durch die rote Wüste führt.

Das alles könnte sehr kitschig wirken. Doch Neumeier hat hier zum ersten Mal Distanz zu sich gewonnen. Wie ein amüsierter alter Mann belustigt sich sein alter ego - Janusz Mazon als Mann - beim Zuschauen über seine Figuren, die alle den früheren Balletten entsprungen zu sein scheinen.

Die Umarmung zwischen dem alten Mann und dem Mann als Kind zitiert die Matthäus-Passion, die Umarmung der Liebenden am Boden erinnert an Romeo und Julia, die später wieder aufstehen und das jazzige On the Town zitieren.Wie Taschenspieler ziehen die Gestalten aus der Vergangenheit vorbei, verschwinden wenn es am schönsten ist, lieben wild oder schüchtern, während ihr Erschaffer auf dem Stuhl sitzt, zeitungslesend, und mal belustigt, mal mitfühlend dem skurrilen Treiben zusieht. Manchmal schlüpft er selber in die Rollen, die die Partitur ihm anbietet. Und dann verweben sich Erzählschichten, wird Wirklichkeit, wird Vergangenheit zum surrealen Spektakel. Janusz Mazon tanzt die einfachen Bewegungen - Neumeier hat stark reduziert, was ihm gut bekommt - mit großer Empfindungskraft. Wenn er sehnt, umarmen seine Hände wirklich Welt. Überhaupt dürfen die Tänzer hier ihre Fähigkeit zeigen, Energie im und um den Körper zu bündeln und damit klare Räume zu schaffen oder zu zerteilen. Fantastisch darin vor allem die Dreiheit der Frauen, verkörpert von Anna Grabka, Heather Juergensen und Bettina Beckmann. Und endlich dürfen ihre Drehungen auch organisch auskreiseln, ausklingen, statt mit angezogenem Fuße in Pose zu verharren.

Neumeier ist milde geworden. Wenn sein alter ego am Ende sich selbst als Jungem gegenübersteht (Talent: Brynjar Bandlien) und beide an der großen Meeresmuschel lauschen, so ist das kitschig, aber rührend. Das Leben wird einfach vor dem Tode. Und der ist in der letzten Szene anders als erwartet.