■ Weihnachtslied in Prosa - ein neues
: Nette Wörter

Weihnachtslied in Prosa – ein neues

Nette Wörter

Man muß schon über die Phantasie und den Fleiß, den Schreibdrang und den Geschäftssinn eines Charles Dickens verfügen, wenn man sich Jahr für Jahr zur Weihnachtszeit ein paar nette Wörter einfallen lassen soll. Ob in der Londoner Doughty Street, in Clovelly an der atlantischen Küste, während einer Italienreise oder in Gad's Head in Kent, jedes Jahr pünktlich vor Beginn der Festtage zog der Meister eine neue Geschichte aus der Schubalde, die bei seinem Verleger die Kassenglocken läuten ließ. Unsereiner muß sich für wenige Zeitungszeilen über die Maßen quälen.

Doch spüre ich es: Die Menschheit hat eine neue Weihnachtsgeschichte verdient, sei es nur, um – mit Dickens' Worten – „ein paar liebevolle und großmütige Gedanken zu erwecken, die in einem christlichen Land niemals unzeitgemäß sind“. Die Geschichte könnte so gehen:

Plötzlich stand er da mitten im großen Weihnachtsmarkt am Brandenburger Tor, und keiner hatte ihn kommen sehen. Die Bummler und Passanten blieben stehen, die Verkäufer verließren ihre Buden und eilten herbei, denn wer bekommt ihn schon leiblich zu sehen – den Weihnachtsmann. Er sah ganz und gar aus wie seine unzähligen Nachahmer vor den Kaufhaustüren: groß, behäbig, mit roten Pausbacken, wehendem weißen Bart und wattebauschigen Augenbrauen. Schön und groß glitzerte sein Schlitten im Sternenstaub, auf der hinteren Bank lagen mehrere Säcke, aus denen Geschenke hervorlugten. Am schönsten aber sahen die Rentiere aus, von deren brauner Haut nach der anstrengenden Fahrt jetzt noch im gelblichen Licht der Straßenlaternen Dampfwolken stiegen.

„Hoho!“ lachte der Weihnachtsmann, und sein Bauch bebte. „Kommt doch näher. Ich hab euch was mitgebracht.“

Der Menschenring zog sich dichter um ihn. Vor lauter Freude noch röter im Gesicht, öffnete der Weihnachtsmann einen Sack und begann, die vorbestellten Geschenke zu verteilen. Er las die Namen auf den Paketen, und die Ausgerufenen meldeten sich. Mit zufriedenen Mienen gingen sie dann nach Hause. Nur ein rotznäsiger Bengel war unzufrieden.

„Du kannst wohl nicht richtig lesen!“ schrie er den verdutzten Weihnachtsmann in bester Scrooge-Manier an. „Auf meinem Wunschzettel steht doch eine Videokassette von Rambo.“

Er hielt „Illuminations“ von Rimbaud in der Hand. Leider sind solche peinlichen Verwechslungen auch zur Weihnachtszeit nicht auszuschließen. Da bahnten sich zwei Polizeibeamte einen Weg durch die Menschenemnge.

„Was ist denn hier los?“ fragten die den Weihnachtsmann. „Ehem, es ist wieder Weihnachten, und ich bin der Weihnachtsmann“, antwortete er.

„Da kann ja jeder kommen“, meinte der eine. „Haben Sie ein Einreisevisum oder eine Aufenthaltserlaubnis?“

Der Weihnachtsmann hatte weder das eine noch das andere.

„Bislang hat mich keiner danach gefragt“, sagte er kleinlaut. „Nirgends! Ich bin ein Weltbürger.“

„Das gibt es nicht!“ sagte der Beamte bestimmt. „Sie sind entweder Deutscher oder Ausländer. Wo kämen wir da hin, wenn jeder doppelte und mehrfache Staatsangehörigkeiten hätte?“

Eine grauhaarige Dame wollte dem Weihnachtsmann helfen.

„Vielleicht sind Sie Deutscher und wissen es noch nicht. Ist Ihre Mutter in Deutschland geboren? Oder wenigstens Ihr Vater?“ fragte sie ihn. Aber der Weihnachtsmann schüttelte nur den Kopf. In der Zwischenzeit wühlten die beiden Beamten in den Säcken auf dem Rücksitz des Schlittens. Einer holt ein in Goldpapier eingeschlagenes längliches Pakt heraus.

„Schmuggelware, was?“ fragte er seinen Kollegen.

„Bestimmt Zigaretten“, meinte der andere.

„Kommen Sie mit!“ befahlen sie dem Weihnachtsmann. „Sie sind wegen des Verdachts auf Verstoß gegen die Einreise- und Zollbestimmungen verhaftet.“

Der arme Weihnachtsmann mußte den Heiligabend zusammen mit zwei Nigerianern, drei Kurden und drei Ex-Jugoslawen in Abschiebegewahrsam verbringen. Unbestätigten Gerüchten zufolge wurde er am nächsten Tag mit den Ex-Jugoslawen in die (UN-)geschützte Sicherheitszone Bihać abgeschoben. Wie habe sich der ahnungslose Weihnachtsmann, als er das Ballern hörte, gefreut, glaubte er doch, daß man ihn zum schönsten Fest des Jahres mit einem Feuerwerk empfange! Bis gleich neben ihm eine Granate einschlug und ihm die Kapuze vom Haupt riß. Da habe ihn eine tiefe Besorgnis um das christliche Abendland erfaßt, das offensichtlich von einer Horde asiatischer Barbaren belagert werde. Um so mehr habe er sich gewundert, daß um den Hals der Soldaten, die ihn dann mit ihrem Panzer bis über die Drina jagten, ein Kreuz baumelte. Er, der Weihnachtsmann, sei unerwünscht, weil er die ethnische Homogenität ihres Landes verletze, schrien die Soldaten ihm noch nach.

Nein, so geht das wirklich nicht. Man quält und müht sich ab, und so was kommt dabei heraus. Wenn das der Meister sähe... Am besten werfe ich die Geschichte in den Papierkorb, und wir lesen in diesem Jahr wieder Die Glocken oder Das Heimchen am Herd. Sie werden schon ein paar liebevolle und großmütige Gedanken in uns zu erwecken wissen. Im nächsten Jahr gibt es dann einen anständigen Kommentar von mir. Versprochen! Kemal Kurt