■ Die Bundesanwaltschaft und die Hogefeld-Anklage
: Gegen die guten Sitten

Wenn Staatsanwälte ermitteln, sind sie verpflichtet, be- und entlastende Umstände gleichermaßen zu erforschen. So lernt es jeder Jurastudent im ersten Semester, und so steht es in der Strafprozeßordnung. Man sollte meinen, daß auch den Bundesanwälten diese Vorschrift geläufig ist. Die Mordanklage gegen Birgit Hogefeld, erhoben im Zusammenhang mit der fehlgeschlagenen Antiterror-Aktion von Bad Kleinen, läßt daran ernste Zweifel aufkommen.

Die Tatsache, daß Birgit Hogefeld nach dem Willen der Bundesanwaltschaft – neben anderen der RAF zugerechneten schweren Straftaten – auch wegen Mordes an dem GSG-9-Beamten Michael Newrzella verurteilt werden soll, hat in der Öffentlichkeit von Anfang an Kopfschütteln ausgelöst. Denn auch die Bundesanwaltschaft bestreitet nicht, daß die Angeklagte schon gefesselt in der Unterführung lag, als oben auf dem Bahnsteig die Schießerei losging, der Newrzella und Wolfgang Grams zum Opfer fielen. Immerhin, nach dem Gesetz kann als Mittäter auch verurteilt werden, wer nicht selbst den Finger am Abzug hat. Nämlich dann, wenn er oder sie „in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken“ mit dem unmittelbaren Täter handelt. Davon gehen die Karlsruher Ankläger bei Hogefeld aus. Sie begründen dies mit der Geschichte der RAF, in der es derartige Absprachen lange gegeben hat: Es war klar, daß man sich den Fluchtweg notfalls auch mit gezielt tödlichen Kugeln freischießt. Und so wurde es praktiziert. Tote gab es auf beiden Seiten mehr als genug.

So unzweifelhaft es derartige Verabredungen gegeben hat, so völlig ungeklärt ist heute, ob es sie immer noch gibt. Wer, wie die RAF, nach 20 Jahren auf tödliche Attentate als Mittel der Politik verzichtet, von dem kann zumindest nicht ausgeschlossen werden, daß er auch sein Verhalten in Festnahmesituationen ändert. Einen Beleg dafür gab es freilich bisher nicht. Die nach wie vor ungeklärten Umstände der Schießerei in Bad Kleinen lassen ein Urteil nicht zu. In dieser Situation stellt sich heraus, daß es sehr wohl eine glaubwürdige Aussage Birgit Hogefelds gibt, sie wolle „Polizisten nicht erschießen“. Glaubwürdig ist die Bemerkung, weil sie sie gegenüber einem, wenn auch nur vermeintlichen, „Genossen“ fallen ließ. Die Bundesanwaltschaft kennt die von Klaus Steinmetz übermittelte Position Hogefelds seit Juli 1993. Trotzdem klagt sie Hogefeld wegen Mordes an Newrzella an. Warum? Hält sie ihren V-Mann für unglaubwürdig?

Das schlichte Ignorieren der Hogefeld entlastenden Steinmetz-Aussage ist in jedem Fall ein Verstoß gegen die guten (juristischen) Sitten. Es ist aber auch ein politisch brisanter Vorgang. Denn die Einlassung des V-Manns hat der Bundesanwaltschaft ohne Frage den juristischen Spielraum eröffnet, die ebenso wackelige wie unpopuläre Mordanklage in Sachen Bad Kleinen fallenzulassen. Den haben die Ankläger nicht genutzt, nicht nutzen wollen. Das muß auch die liberale Justizministerin in Bonn interessieren, die nicht müde wird, die Entspannungsbemühungen ihres Vorgängers in dieser Auseinandersetzung zu loben. Karlsruhe ist offenbar immer noch nicht da, wo Klaus Kinkel und Sabine Leutheusser angeblich hinwollen. Gerd Rosenkranz