Die „biologische Lösung“ ist absehbar

Die Regierungsbürokraten feilschen um Ausgleichszahlungen für die 260 ehemaligen KZ-Opfer der drei baltischen Staaten / Lettland möchte sogar die 11.000 SS-Legionäre versorgt wissen  ■ Von Anita Kugler

Berlin (taz) – Eines der beschämendsten Kapitel der deutschen „Wiedergutmachungspolitik“ ist der Umgang mit den wenigen Überlebenden der Ghettos und Konzentrationslager in den baltischen Staaten. Bis heute haben die estnischen, litauischen und lettischen Juden für die Enteignung ihres Vermögens, für ihre Zwangsarbeit zugunsten des „Tausendjährigen Reiches“, ganz zu schweigen von der Zerstörung ihres Lebens, nicht einen Pfennig von der Bundesregierung erhalten.

Wieder einmal wies der Bundestagsabgeordnete Gert Weisskirchen (SPD) auf diesen „Skandal“ hin. Bei der am Dienstag zu Ende gegangenen Tagung des Berliner „Zentrums für Antisemitismusforschung“ über den Genozid an den lettischen Juden berichtete er über den letzten Stand des baltisch-deutschen Tauziehens. Die Debatte über die Möglichkeit individueller Hilfe aus Deutschland wird wohl erst dann beendet sein, wenn die letzten Überlebenden der Nazischreckenszeit gestorben sind. In Estland leben noch 20, in Lettland und Litauen zusammen etwa 240 ehemalige jüdische Konzentrationslager-Häftlinge. Alle erhalten bis jetzt staatliche Renten, die nicht einmal das Existenzminimum sichern.

Im vergangenen Jahr versprachen Regierung, Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker dem Baltikum „rasche, unbürokratische und individuelle Hilfe“. Nun, das Gegenteil ist der Fall. Statt mit den Verbänden der ehemaligen jüdischen Häftlinge zu sprechen, verhandelt Bonn mit den Regierungen der baltischen Länder. Sie haben im Sommer 1994 Estland, Litauen und Lettland je zwei Millionen Mark für „humanitäre Projekte“ angeboten, einmalige Ablaßzahlungen, die sie dann von weiteren Ansprüchen entlasten sollen. Diese Gelder würden sie überweisen, wenn die jeweiligen Länder konkrete Projektvorschläge, etwa für Altersheime oder Sanatorien, in Bonn eingereicht haben. Falls die baltischen Regierungen dem Wunsch der Überlebenden nachkommen wollen, individuelle „Entschädigungen“ auszuzahlen, sollten sie von diesen angebotenen Millionen einen kleinen Betrag abzwacken. Die Projekthilfe dürfe aber auf keinen Fall gefährdet werden, um nicht Präzendenzfälle für eine idviduelle Entschädigung zu schaffen.

Als einziges Land hat am 7. November die Republik Estland dem Auswärtigen Amt Projektvorschläge zugesandt. Die Esten wollen die angebotene Summe nicht für zwei oder drei Objekte zugunsten der jüdischen KZ- Opfer verwenden, sondern den Betrag „flächendeckend“ einsetzen, „damit möglichst viele Bewohner von der humanitären Hilfe profitieren können“. Der Außenminister der Republik Litauen, Povilas Gylys, lehnte, zuletzt am 22. September, die angebotene Summe als viel zu niedrig ab. Er hält einen Betrag von 50 Millionen für die drei Staaten für angemessen und zog einen Vergleich zu der von der Bundesregierung mit insgesamt einer Milliarde Mark dotierten Stiftung „Verständigung und Aussöhnung“ für die Naziopfer von Rußland, Belorußland und Ukraine. Weil es nicht zumutbar wäre, daß sich die Überlebenden des Holocaust in Litauen ausgerechnet an die ehemaligen Okkupanten wenden müssen, solle die Bundesregierung einen entsprechend großzügigen Fonds auch für die baltischen Länder einrichten. Über kollektive Hilfe, wie die Einrichtung eines Krankenhauses, könne man danach reden.

Den Wunsch der litauischen Regierung lehnte das Auswärtige Amt am 20. Oktober ab. „Der Bundesregierung ist es leider nicht möglich, (...) Individualentschädigungen zu leisten“, heißt es in einem Schreiben an Gylys, und die Stiftungen „Verständigung und Aussöhnung“ in Moskau, Kiew und Minsk könnten keine Präzedenzeinrichtungen sein, weil sie „im Zuge der Herstellung der deutschen Einheit noch mit der Regierung der ehemaligen Sowjetunion geschaffen wurden“. Seit diesem Schreiben herrscht Funkstille zwischen Vilnius und Bonn.

Und skandalös reagierte die lettische Regierung. Sie will nämlich, daß nicht nur die 120 jüdischen und 150 politischen Häftlinge der Nazis entschädigt werden, sondern daß auch die etwa 11.000 lettischen SS- Legionäre, das heißt die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht und der Waffen-SS, in die Entschädigungsleistungen einbezogen werden. Dies wäre notwendig, argumentierte der lettische Botschafter Kesteris zuletzt am 23. Juni in Bonn, „um innenpolitische Spannungen zu vermeiden“. Und wenn die ehemaligen jüdischen Ghetto-und KZ-Häftlinge besonders bedacht werden sollten, so müsse Bonn ihr Hilfsangebot eben nachbessern. So zuletzt der Justizminister Levitis, wohl wissend, daß nach dem deutschen Bundesversorgungsgesetz kriegsverletzte SS- Legionäre (sofern sie nicht an Judenerschießungen beteiligt gewesen sind) schon eine Rente bis zu 800 Mark erhalten.

Im Klartext heißt dies: Weil die Bonner Regierung nur mit den baltischen Staaten diskutiert und diese uneinig sind, besteht die akute Gefahr einer „biologischen Lösung“. So der für die baltischen Juden engagierte Bonner Abgeordnete Wolfgang von Stetten (CDU) an den Vorsitzenden des Vereins Ghettoüberlebende, Alexander Bergmann, in Riga. Heute will er sich noch einmal mit seinen Kollegen Weisskirchen (SPD) und Winni Nachtweih (Bündnisgrüne) in Bonn zusammensetzen, um Möglichkeiten für eine neue überfraktionelle Initiative zu finden.