"Mindestens fahrlässige Tötung"

■ DGB-Arbeitschutzrechtler: Politik und Wirtschaft haben jahrzentelang wissentlich die ArbeiterInnen durch Asbest verseuchen lassen / Serie "Asbest - die geleimten Opfer (9)

„Mindestens fahrlässige Tötung“

DGB-Arbeitschutzrechtler: Politik und Wirtschaft haben jahrzehntelang wissentlich die ArbeiterInnen durch Asbest verseuchen lassen / Serie „Asbest – die geleimten Opfer“ (9)

Reinhold Konstanty hat einst im Bremer Hafen Jutesäcke voller Asbest verladen. Später studierte er Jura, heute sitzt er beim Bundesvorstand des DGB in Düsseldorf und ist dort unter anderem für Arbeitsschutz zuständig. Seit 26 Jahren führt er Musterprozesse, um Asbestopfern zu einer Entschädigung zu verhelfen.

Manche Vorwürfe der Asbestkranken klingen ja geradezu abenteuerlich, daß Unterlagen verschwinden zum Beispiel – es bleiben aber diese beunruhigenden Zahlen: Im vergangenen Jahr haben die Berufsgenossenschaften bei 3.071 angezeigten Asbestose-Verdachtsfällen gerade mal 364 Menschen entschädigt und bei 1.586 angezeigten Asbestkrebs-Verdachtsfällen 774. Wieviele müßten Ihrer Meinung nach entschädigt werden?

Reinhold Konstanty: Es müßten jährlich allein schon 10.000 Asbestkrebsfälle entschädigt werden – wir gehen ja auch von einer sehr hohen Dunkelziffer aus.

Die Ärzte melden also die meisten Verdachtsfälle gar nicht erst?

Ja, auch weil man glaubt, der Lungenkrebs und das Mesotheliom seien eine Folge des Rauchens. Aber wenn man sich den Lungenkrebsatlas der Bundesrepublik anguckt, dann sieht man Lungenkrebsinseln – Bremen ist so eine Insel und die Pendlergebiete der ehemaligen Werftarbeiter, also Landkreis Cuxhaven, Osterholz ... Bei den Männern dort findet man eine sehr hohe Lungenkrebsrate. Es bekam ja immer nur ein Bauernsohn den Hof, die anderen Söhne gingen auf die AG Weser, den Vulkan und nach Bremerhaven auf die Werften.

Rauchen soll doch aber tatsächlich das Asbestkrebsrisiko wesentlich verschlimmern, so daß die Leute letztlich mitschuld sind...

Man kennt seit 1936 die lungenkrebserzeugende Wirkung von Asbest – man hat aber die Leute nicht aufgeklärt! Das war zumindest fahrlässige Tötung.

Sollten da die Asbestkranken nicht ihre Betriebe verklagen wegen Körperverletzung?

Das habe ich mir auch schon mal überlegt. Aber es wäre falsch, sich jetzt das Unternehmen rauszunehmen und die Abgeordneten, die Landesregierungen und die Regierung frei rumlaufen zu lassen. Die gesamte politische Ebene hat mitgemacht...

Indem sie erst so spät ein Asbestverbot ausgesprochen hat – das Totalverbot gilt ab 1995.

Das erste Verbot wurde zwar 1979 ausgesprochen, aber nur für das Asbestspritzverfahren. Und auch nur, weil wir aus einem kleinen Isolierbetrieb acht Todesfälle auf den Tisch legen konnten. Es wäre falsch, die kleinen Unternehmen zu verklagen, die hatten gar nicht das Knowhow. Die meiste Schuld trifft die, die es wissen und nicht sagen, also Wissenschaftler, Ärzte und Politiker.

Dabei ließe sich doch mit Arbeitsschutz trefflich Wahlwerbung machen! Wieso haben denn die PolitikerInnen so gemauert gegen ein Asbestverbot?

Die mauern heute noch so!

Also stimmt es gar nicht, daß die Bundesrepublik Spitze ist beim Arbeitsschutz?

Nein, die Bundesrepublik ist gemessen an den Gesundheitsrisiken in unserer hochindustrialisierten Arbeitsumwelt eher eine Bananenrepublik. Wir haben da einen hohen Standard, wo das Verkaufsinteresse für deutsche Produkte mit dem Faktor Sicherheit zusammenhängt, zum Beispiel bei elektrischen Haushaltsmaschinen. Bananenrepublik aber sind wir beim Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer, soweit keine Verbraucherinteressen und keine allgemeinen Bevölkerungsinteressen betroffen sind. Wir haben als Grundvorschrift für den Arbeitsschutz den Paragraphen 120 a der Gewerbeordnung von 1869. 1869! Da steht drin, daß der Arbeitgeber die Gesundheit der Arbeitnehmer nur soweit zu schützen braucht, wie es die „Natur des Betriebs“ gestattet. Mit der Natur des Betriebs, also den wirtschaftlichen Interessen, kann man viel machen!

Aber das Bewußtsein über die Gefährlichkeit von Asbest ist doch immens gestiegen, jede Schule wird sofort geschlossen ...

Gerade Asbest ist ein Beispiel für die Verlogenheit unserer Gesellschaft. Um Asbest hat sich niemand gekümmert, bis wir eben die acht Toten 1978 in die Öffentlichkeit brachten! Dann haben Monitor und Panorama Sendungen gebracht, dann hat sich die Umweltbewegung dafür interessiert, weil wir gesagt haben, das betrifft nicht nur Arbeitnehmer ... Da endlich kroch die Politik zu Kreuz und erklärte sich bereit zu einem schrittweisen Asbestverbot.

Asbest ist verboten, aber die Leute mit Asbestose werden nicht entschädigt – weil sie angeblich noch prima schnaufen können.

Die Gutachter lassen die Leute nur eine oder zwei Minuten pusten, dann sind sie aber noch nicht so kaputt, wie wenn man sie acht Stunden arbeiten ließe ähnlich wie auf einer Werft. Das wäre nämlich teurer und würde das harmlose Bild kaputtmachen.

Die Betroffenen sprechen ja auch von einer Gutachtermafia. Ein und derselbe Gutachter arbeitet für die Berufsgenossenschaft, sagt vor den Sozialgerichten aus...

Niemand will ein Schwein sein, aber alle sitzen am Napf und kriegen dickes Geld dafür, manche über 200.000 Mark im Jahr. Und eins ist klar: Sobald ein Gutachter ausschert, wird er nicht mehr als Gutachter zugelassen. Das ist ja kein offizielles Bestellungsverfahren, da werden auch nicht Qualitätskriterien geprüft, sondern Gutachter, die schon im Geschäft sind, ziehen sich Zuarbeiter heran.

Gutachterhörig sind aber auch Arbeitnehmervertreter in den Rentenausschüssen der Berufsgenossenschaften, was soll man denn davon halten? Die unterschreiben schließlich reihenweise Ablehnungen.

Das ganze System ist falsch gestrickt. Die Berufsgenossenschaften und die Gerichte stützen sich auf medizinische Gutachten. Diese Gutachten enthalten schwerwiegende Fehler. Und das wird nun alles unseren armen Rentenausschußmitgliedern vorgelegt. Eigentlich müßten die sagen, ich gebe meine Unterschrift nur unter etwas, was ich selber beurteilen kann. Unsere Leute in den Rentenausschüssen werden als Unterschriftsmaschine mißbraucht.

Es ist also von Politik, Wirtschaft und Gutachtern alles so eingerichtet worden, daß auf jeden Fall wenig Entschädigungen dabei rauskommen. Wer könnte denn daran was ändern?

Zunächst einmal müßte offensiver prozessiert werden. Es muß eine Welle der Betroffenen auf die Sozialgerichte bis hin zum Bundessozialgericht geben, auf die Petitionsausschüsse der Landtage und des Bundestages hin, um dieses skandalöse Unrecht aufzudecken. Dann müßten bei allen Ablehnungen unsere Mitglieder in den Rentenausschüssen ihre Unterschrift verweigern. Außerdem brauchen wir eine Reform des Berufskrankheitenrechts.

Das hat doch die SPD mal versucht zusammen mit dem DGB?

Ja, aber der Scharping nimmt das Thema nicht so ernst. Die SPD krankt daran, daß das zwei, drei Leute sind im Bundestag, die werden dann als Randfragen-Aktivisten angesehen. Die SPD hat sich nie mit dem ganzen Gewicht ihrer Partei stark gemacht für eine Reform auf diesem Gebiet. Vor der Europawahl haben wir den Scharping nochmal angeschrieben, auch weil die Bundesregierung die Rahmenrichtlinie der EU zum Arbeitsschutz – vom Juni 1989! – nicht umsetzt. Wir sind eins der drei Schlußlichter in Europa bei der Umsetzung in nationales Recht! Fragen: Christine Holch