Keiner wartet auf Gerechtigkeit

Eine Fotoaustellung dokumentiert Straßenkinder aus Madagaskar und Berlin / Ihre Lebensgeschichten haben die Kinder selbst verfaßt  ■ Von Kathi Seefeld

Das Lachen der Straßenkinder von Tana

„Wir haben ,echte‘ Probleme ... die Verpackung des Reichstages in biologisch abbaubare Folie ... und die Entsendung von Raumschiffen zur Erforschung des Einflusses der Schwerelosigkeit auf die Mutationsrate von Hefebakterien.“ Worte unter einem Foto, das Straßenkinder aus Madagaskar zeigt. Freche, lachende Kerlchen. Verlaust, verwurmt, hungrig. Zwölfjährige, die wirken wie sechs, Mädchen mit Babies auf dem Rücken, die oft schon ihre eigenen sind und manchmal vierzehn Tage später sterben.

Vor zwei Jahren saßen der einstige Tontechniker Uwe Marschall und der Umweltreferent vom Bund der Katholischen Jugend Ralf Kramarczyk nach dreimonatiger Trekking-Tour auf dem Balkon ihres Hotels in Antsirabe. Sie hörten plötzlich das Quietschen einer Kiste auf der anderen Seite der Straße. „Pappe, ein paar Bretter drumherumgenagelt.“ Der Deckel ging auf und heraus stiegen zehn Kinder. Durchgefroren und erbärmlich anzuschauen.

Uwe Marschalls Kamera fing die behutsame Annäherung an die Kinder ein. Die „verrückten Weißen“ wollten helfen, mieteten ein Haus und gründeten ZaZa Faly (zufriedenes Kind). „Diese Kinder können nicht auf eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung warten. Sie brauchen zu essen, Kleidung, einen Platz zum Schlafen.“

Ein Bild von Fredi. Seine ältere Schwester hat schwere Ruhr und wäre in den nächsten Tagen gestorben. Das Medikament, das Uwe und Ralf aus der Apotheke holten, kostete sechs Mark. Fredi lacht. Bestimmte Fotos wurden nie gemacht. Nicht das von einer Gruppe, die in ihrem Hunger auf der Müllkippe einen toten Hund verspeiste. „Auch Straßenkinder haben eine Würde“, so Uwe Marschall. Seine Bilder sollen Spenderherzen rühren. Nur das garantiert, daß ZaZa Faly weiterarbeiten kann. Für 50 Mark im Monat versorgen sie ein Kind auf der Straße, für 100 Mark eins im Wohnprojekt. „Das ist mehr, als große Hilfsaktionen leisten können. Dort geht das meiste Geld für den riesigen Verwaltungsapparat drauf.“

Die Gesichter der Ratten von Berlin

Chips blickt stumm auf die Bilder der madegassischen Straßenkinder. Seine linke Hand umklammert eine Bierflasche. Die gab es umsonst bei der Ausstellungseröffnung. Auch etwas zu essen. Zigaretten hat er selber. Der 13jährige ist im Sommer von zu Hause weg, sagt er, aus Mecklenburg-Vorpommern. Die Eltern wollten ihn ins Heim stecken. Diese Nacht hat Chips noch keine Bleibe. Einer, der wie er seine „Karriere“ als Straßenkind in Berlin begann, nahm ihn mit zu den Fotos. Auch seines hängt dort. „Bin nicht zu erkennen, was? Naja, hat sich viel verändert seitdem. Ich will jetzt erst mal die Ausbildung zu Ende bringen.“ Chips sieht ihn ungläubig an, schaut auf die Portraits: Obdachlose Jugendliche in Berlin. Ratten, Zecken – Chips lacht bei der Vorstellung, einer würde kommen und sich um sie kümmern. „Richtig kümmern! Nicht so ein Sozi-Scheiß, wo der ganze Verbotsstreß nur weitergeht.“ Kerstin Zillmer, zitty-Fotografin, hat für „Karuna – Freizeit ohne Drogen e.V.“ ein halbes Jahr lang mit nichtseßhaften Mädchen und Jungen zusammengearbeitet. „Ich habe sie auf den Bildern natürlich ästhetisiert. Weil ich sie nicht in der bekannten Pose zeigen wollte, beim Schnorren vor Supermärkten oder U-Bahnhöfen.“

3.000 Jugendliche leben auch bei uns auf der Straße. Nachts suchen sie Unterschlupf in besetzten Häusern oder Wagenburgen. Auf den Fotos kann man ihnen in die Gesichter schauen. Und ihre Geschichten erfahren. Die nichtseßhaften Jugendlichen griffen zur Feder: Verbote, Demütigungen, Schläge. Hinweise auf ein aus den Fugen geratenes soziales Gefüge in Schönschrift.

Chips bezweifelt, daß er so über sein Leben schreiben könnte. Eines Tages vielleicht, wenn er genügend darüber nachgedacht hat, sagt er. Einer, der für „Karuna e.V.“ den Zeitdruck, die Zeitschrift obdachloser Jugendlicher, verkauft, gewährt ihm für eine Nacht Unterschlupf. Morgen will er Chips helfen, nach einer richtigen Bleibe zu suchen.

Zu sehen sind die Fotos aus Madagaskar und Berlin in den Ausstellungsräumen am Frankfurter Tor 1 (U-Bahnhof Rathaus Friedrichshain) noch bis 21.12., Mo. bis Fr. von 11.00-18.00 Uhr.

Spendenkonto: ZaZa Faly e.V., Bank für Sozialwirtschaft Berlin, Kto. 338 02 00, Kennwort: Straßenkinder.