Landläufiger Wahnsinn

■ Christine Sohn mit Rimbaud-Texten auf Kampnagel

Wir lieben Rimbaud. Diesen frühreifen Poèt maudit, den Schönen und Grausam-Klaren. Der 1871, mit 17 Jahren, schreibt: „Ich sage, daß es not tut, Seher zu sein... Der Dichter macht sich sehend durch eine lange, gewaltige und überlegte Entregelung aller Sinne.“ Wozu, wie erzählt wird, auch Drogen aller Art gehörten.

Wir lieben Rimbaud, der mit 19 Jahren aufhörte, Poesie zu schreiben, und sich dann als Waffenschmuggler und Weltenwanderer betätigte. Keiner eignet sich besser als dieses kurz, aber hell leuchtende Enfant terrible zur Identifikation für Künstler und Möchtegernkollegen.

Christine Sohn, „herausragendes Ensemble-Mitglied in Roberto Ciullis Theater an der Ruhr“, so teilt das Kampnagel-Info mit, hat sich darangemacht, Rimbauds Prosa-Gedichte, die unter dem Titel Une Saison en EnferEine Zeit in der Hölle – versammelt sind, in Szene zu setzen.

In der nackten Kampnagel-Halle 4 sind drei lange Stuhlreihen plaziert – vor den Zuschauern nur die blaugraue, angestrahlte Fabrikwand. Eine Stimme erschallt von hinten, und schon kommen Zweifel auf: die deutsche Sprache, geschrien, wird schnell zum Gebrüll, das fatal ans Militär erinnert.

In hellgrauen Mantel gehüllt, lange Wollärmel bis zu den Fingerspitzen, in der Hand einen Koffer, taucht eine Art jüngerer und verflammterer Schwester Nina Hagens auf mit durchdringendem Organ und rollenden Augäpfeln. Manchmal torkelnd, manchmal lallend, läßt sie den Wahnsinn aus ihrer Mimik sprühen – diese landläufige Vorstellung vom Wahnsinn: von den „Verrückten“, den gebrochenen Pennern, Punkies, Junkies. Rimbauds „Wutgeheul über den Raub des wahren Lebens“, wie Christine Sohn ihr Projekt beschreibt, ist bei ihr zumeist eine etwas arrogante, leicht weltangeekelte Pose, die sie beharrlich wiederholt. Wenn sie sich allerdings in manchen Augenblicken einkriegt, stiller wird, dann überzeugt sie.

„Ich gewöhnte mich an die einfache Halluzination: ohne weiteres sah ich eine Moschee an Stelle einer Fabrik“, schreibt Rimbaud, der Zauberer, in seiner Alchemie des Wortes. Bei Christine Sohn, der Schauspielerin, sehen wir die Fabrik und immer wieder die Fabrik? Aber wer kann sich auch schon messen lassen an einem Hellsichtigen und eben nicht Wahnsinnigen, Wissenden und nicht Arroganten?

Wir lieben Rimbaud. Und seine Texte sind es wert, sich immer wieder die Zähne daran auszubeißen.

Kampnagel Halle 4, noch am 21. und 22. Dezember, jeweils 20.30 Uhr