„Wer wird der nächste sein?“

■ Von der Gefahr, in der Türkei Politik zu machen – Eindrücke von Ömer Erzeren

Manchmal macht schon die Geschichte eines Fotos deutlich, wie die Türkei zu Europa steht. Ich hatte vor zehn Jahren meinem Freund Ragip Zarakolu, dem Chef des linken Belge-Verlages, ein eingerahmtes Poster von Jean Paul Sartre geschenkt. Sein Verlag befand sich in dem Gebäude, wo auch die kurdische Zeitung „Özgür Ülke“ ein Büro unterhielt.

Eine Bombe jagte das Gebäude vor einigen Wochen in die Luft; von den Redaktionsräumen und Ragips Verlag blieb nur ein Trümmerhaufen. Und mitten in diesen Trümmern fand Ragips Ehefrau Ayse mein Geschenk von damals – Jean Paul Sartres Foto war zersprungen und zerstört.

Manchmal sind es auch einzelne Ereignisse, die Jahre später eine besondere Bedeutung bekommen. Ich erinnere mich an eine Cocktailparty der Zeitung „Özgür Ülke“ im Mai 1992 im ehrwürdigen Hotel Pera Palas, wo einst der Republikgründer Atatürk residierte.

Wir feierten damals das Erscheinen der Zeitung, die sich durch kritische Berichterstattung dem nationalistischen Wahn entgegenstemmen wollte. Heute, gut zwei Jahre später, sind viele der Gäste von damals verhaftet, ermordet oder konnten fliehen: Der Verleger Yasar Kaya wurde zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt und entkam ins Exil. Der immer lächelnde kurdische Schriftsteller Musa Anter wurde, wie viele Redakteure bei kritischen Zeitungen in der Türkei, von Todesschwadronen umgebracht. Und die acht kurdischen Abgeordneten wurden vor kurzem zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Es vergeht keine Woche, wo nicht grausame Kunde eines politischen Mordes eintrifft. Wir fragen uns immer wieder: „Wer wird der nächste sein?“ Über ein Dutzend meiner engeren Freunde, alle übrigens Türken, die Unerwünschtes über die „kurdische Frage“ geschrieben haben, haben Prozesse vor dem Staatssicherheitsgericht. Für jeden fordert die Staatsanwaltschaft mehrjährige Gefängnisstrafen.

Vor kurzem traf ich in einem Café den schwulen Schriftsteller Murathan Mungan. Er gehört zu den besten zeitgenössischen Autoren der Türkei. Wie viele Türken hat er Vorfahren in etlichen Staaten: Sein Großvater väterlicherseits war Araber, seine Großmuter war Kurdin, und seine Mutter ist Bosnierin aus Sarajewo. Die türkische Gesellschaft zwischen Ost und West ist wesentlicher Hintergrund seiner Gedichte und Erzählungen.

Murathan Mungans philosophischer Exkurs bei unserem Treffen prophezeite eine düstere Zukunft für die Türkei und die Menschen, die hier leben: „Bei den frühgeschichtlichen Philosophen bringen die Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde das Leben hervor“, sagte Murathan Mungan. In der Türkei treffe zur Zeit genau das Gegenteil zu: „Das Feuer wird nicht aufklärerisch, im Sinne des Prometheus genutzt, sondern um Menschen und Dörfer abzubrennen. Die Luft ist verpestet. Aus unseren Leitungen kommt vergiftetes Wasser. Und die Erde der Türkei hat sich mit menschlichem Blut vollgesogen.“