Rückt die Türkei ab von Europa?

■ Wie türkische Politiker ihre harte Politik mit europäischen Phrasen kaschieren

Die Türkei ist so europäisch wie die türkische Ministerpräsidentin Tansu Çiller. Die Blondine spricht fließend Englisch, kleidet sich stilvoll und chic, wirkt kultiviert und belesen und beherrscht die Kunst des Small talk. „Auf nach Europa, auf in die Zivilisation“ sind ihre Schlagworte. Doch all dies ist die äußere Form. Hinter dem Make-up verbirgt sich die türkische Version von Despotie; Inhalt der Politik und ihre äußere Form sind unerbittliche Gegensätze.

Jüngst veröffentlichte der Journalist Ahmet Altan das „Portrait einer blonden Ministerpräsidentin“: „Um sich nicht von ihrem geliebten Sessel zu trennen, kann sie alle ins Gefängnis stecken, sie kann Menschen hinrichten lassen, lügen und mit Reife ertragen, daß die Generäle und Staatsanwälte die ganze Macht ergreifen.“

Die Ministerpräsidentin ist europäisch, wenn es darum geht, Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds abzuschließen. Sie duckt und schämt sich und verspricht, fortan eine fleißige Schülerin zu sein. Im Windeseile werden auf Weisung der Europäischen Union neue Gesetze im türkischen Parlament verabschiedet, um die Türkei auf die Zollunion vorzubereiten.

Doch wenn Europäer, sei es ein britischer Lord aus dem Londoner Oberhaus oder ein Sprecher von amnesty international, Kritisches zur Menschenrechtssituation in der Türkei verlauten lassen, folgt das Gezeter: Die „Unabhängigkeit der Justiz“ werde ignoriert, wetterten türkische Parlamentarier gestern. Außenminister Murat Karayalcin kündigte in der turbulenten Debatte an, die Türkei werde kein weiteres Entgegenkommen gegenüber der EU zeigen.

Diese Distanz zu Europa bricht mit einer jahrelangen Tradition. Denn seit der Jahrhundertwende hat die Türkei versucht, vieles aus Europa zu übernehmen. Aus Italien zum Beispiel wurde das Strafrecht, aus der Schweiz die Zivilgesetzgebung importiert. Dieser Staat hat das allgemeine Wahlrecht für Frauen eingeführt und den Laizismus, die Trennung von Staat und Religion in der Verfassung verankert. Auf den Trümmern des osmanischen Vielvölkerstaates haben die Republikaner den Begriff der „türkischen Nation“ in die Geschichte eingeführt – schließlich waren die europäischen Vorbilder ja auch Nationalstaaten. Alle Kräfte, die dem Modernisierungsprojekt im Wege standen, ob Islamisten oder Kurden wurden militärisch zerrieben.

Die Rhetorik Europas beherrschen die türkischen Politiker perfekt, auch die Rhetorik über die Rechtstaatlichkeit. „Wir werden Rechenschaft ablegen, wenn eine Ziege am Euphrat verlorengeht“, versprach der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel vor wenigen Jahren, was heißen sollte: Keinem Menschen wird in den kurdischen Gebieten etwas angetan. Heute brennt der Staat dort die Dörfer nieder; die Türkei ist ein Paradies für Bombenleger und Todesschwadronen. Dieser Staat schaut zu, wenn islamistische Fanatiker 37 Intellektuelle in einem Hotel im zentralanatolischen Sivas abfackeln. Und wer den Aufruf „Hört auf mit dem Krieg in Kurdistan“ unterzeichnet hat, muß mit Gefängnisstrafen rechnen.

Es ist ein merkwürdiges „Projekt Europa“, das dieser Staat realisiert: Persönliche Freiheit reduziert sich auf gewalttätige „Reality- shows“ in privaten Fernsehsendern, auf Mega-Diskotheken, wie man sie in Europa nicht findet, auf polizeiliche Rasterfahndung und High-Tech-Waffen zur „Bekämpfung des inneren Feindes“. Sicher war das Projekt Europa der türkischen Republikgründer ursprünglich revolutionär. Heute existiert es nur als Abklatsch, als Fassade, als hohle Rhetorik auf den Lippen der türkischen Ministerpräsidentin. Ömer Erzeren