Rückt Europa ab von der Türkei?

Heute entscheidet die EU über die Zollunion mit der Türkei, die nach einem über dreißig Jahre alten Plan am 1. Januar 1995 in kraft treten sollte. Daraus wird wohl nichts. Unsere Korrespondenten stellen aus diesem Anlaß zwei Fragen:

Es wäre schön, meinte kürzlich die grüne Europa-Abgeordnete Claudia Roth, wenn die Abgeordneten in Straßburg bei abgebrannten Dörfern genausoviel Sensibilität zeigten wie bei der Verurteilung kurdischer Parlamentarier. Selten hat eine Menschenrechtsverletzung soviel Emotionen aufgewühlt im Europa-Parlament wie die langen Haftstrafen für die kurdischen Kollegen.

Am vergangenen Donnerstag forderte das Europa-Parlament mit großer Mehrheit, die Verhandlungen der Europäischen Union (EU) mit der Türkei über die geplante Zollunion zu unterbrechen. Die Union müsse wenigstens einmal mehr tun als immer nur Erklärungen abzugeben, wetterte die französische Kommunistin Aline Pailler.

Die hohen Haftstrafen für die kurdischen Abgeordneten haben die Europäische Union gespalten. „Wir sind in einem Dilemma“, stöhnte der Niederländer Hans van den Broek, in der Europäischen Kommission für die Verwaltung der Außenbeziehungen zuständig. Einerseits müsse der Regierung in Ankara zu verstehen gegeben werden, daß die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen eine Annäherung an die EU erschweren. Andererseits habe die Union mehr Einfluß, wenn sie im Dialog bleibe. Es sind die üblichen Formeln vom Wandel durch Handel etcetera, mit denen die Pragmatiker drängen, die Geschäfte nicht zu stören. „Wenn wir die Türkei abweisen“, resümiert van den Broek, „kann das zu einer Radikalisierung dort führen.“

Doch am Zug ist nicht das parlamentarische Gewissen und nicht der kühle Geschäftssinn der Kommission. Am Zug sind die zwölf Außenminister der Europäischen Union, die heute in Brüssel entscheiden müssen, ob sie sich am Abend mit dem türkischen Außenminister zum sogenannten Assoziationsrat zusammensetzen. Das Datum wurde vor Monaten festgelegt, wichtigster Tagesordnungspunkt ist die endgültige Entscheidung über den Start der seit langem geplanten Zollunion, von der die türkische Ministerpräsidentin Çiller sagt, sie werde der Beginn einer fortschreitenden Integration der türkischen Wirtschaft in die der Europäischen Union sein.

Die deutsche Ratspräsidentschaft will das Treffen mit dem türkischen Außenminister nicht verschieben. Eine Woche nach der flammenden Protestnote von Essen möchte Kinkel zur Normalität zurückkehren. Ihm steht die griechische Regierung gegenüber, die jede Annäherung der EU an Ankara boykottiert. Seit 15 Jahren verhindert Griechenland mit seinem Veto, daß eine mit Mehrheit beschlossene EU-Anpassungshilfe für die türkische Wirtschaft in Höhe von 1,2 Milliarden Mark ausgezahlt wird. Athen versucht nun, die europaweite Empörung über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu nutzen, um die verhaßte Zollunion zu Fall zu bringen. Die anderen Länder stehen irgendwo dazwischen. Luxemburg etwa plädiert auf eine Vertagung, legt aber Wert auf die Betonung, daß die luxemburgischen Bedenken nichts mit den griechischen gemein hätten.

Es ist unwahrscheinlich, daß sich die EU-Außenminister heute einigen können, die Zollunion wie vorgesehen für 1996 festzulegen. Der ursprünglich geplante 1. Januar 1995, den die Europäische Gemeinschaft vor über dreißig Jahren versprochen hat, wurde schon vor Monaten aus politischen Gründen stillschweigend verschoben. In einem vertraulichen Bericht warnte die Europäische Kommission im Juni, daß die Türkei wirtschaftlich und politisch noch nicht reif für die Annäherung sei.

Der Bericht weist vor allem auf den Krieg gegen die Kurden hin, sowie die Anschläge der PKK, die bis „ins Herz von Istanbul“ reichten. Besonders schwerwiegend sei die Verhaftung der kurdischen Abgeordneten. Der Prozeß habe sehr negative Auswirkungen auf die öffentliche Meinung in Europa.

Von einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union, wie sie Ankara seit einigen Jahren fordert, ist die Türkei weiter entfernt als jemals vorher. Seit den fünfziger Jahren drängt sie auf eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Bereits 1952 war die Türkei in die Nato eingegliedert worden. Mit Unterstützung der USA forderte Ankara von Westeuropa, daß die militärische Partnerschaft auch wirtschaftlich abgestützt werden müsse. Die Begeisterung in der Europäischen Gemeinschaft, die noch EWG hieß und aus den sechs Gründerstaaten Frankreich, Italien, Deutschland und den Benelux-Staaten bestand, hielt sich in Grenzen. Als 1963 der Vertrag über die Zollunion ausgehandelt wurde, schrieben die EWG-Länder deshalb eine Vorbereitungszeit bis 1995 fest.

Die Zollunion würde der Türkei im Verhältnis zur EU etwa denselben Status geben wie ihn zur Zeit die Efta-Staaten Schweden, Norwegen oder Österreich haben: zollfreier Handel, aus dem allerdings landwirtschaftliche Produkte ausgenommen sind. Die EU-Agrarpolitik ist zu kompliziert und zu umkämpft, als daß man dabei Freihandel zulassen könnte. Alois Berger, Brüssel