■ Schnitzler „Bild“-Chef und Franzi bei „VEB Milka“
: Deutscher Horror „Rote Wende“

Berlin (dpa) – Der Bundeskanzler ist im Exil in Paraguay, Karl- Eduard von Schnitzler neuer Chefredakteur der Bild-Zeitung, das VW-Werk in Wolfsburg baut den neuen Trabant 603, Franziska van Almsick erhält den Vaterländischen Verdienstorden in Silber als Leiterin der Abteilung Verkauf und Werbung des „VEB Milka“, und Franz Beckenbauer trainiert den Fußballverein „Fortschritt Bischofferode“. Alptraum oder Wunschdenken?

Fünf Jahre nach der Wende 1989 hat sich der Berliner Liedermacher und Schriftsteller Reinhold Andert (Jahrgang 1944), der 1980 aus der SED ausgeschlossen wurde und Bücher wie den Beststeller „Der Sturz – Honecker im Kreuzverhör“ veröffentlichte, seine eigenen Gedanken nach dem Motto „Was wäre wenn?“ gemacht. Das Ergebnis liegt jetzt als Buch mit dem Titel „Rote Wende“ (Elefanten Press Verlag Berlin) vor.

Alles begann damit, daß 1989 die ungarischen Genossen (wieder mal) um „solidarische Hilfe des Warschauer Vertrages“ baten und Kampfgruppen der Arbeiterklasse mit aufgepflanztem Bajonett an den „machtvollen Leipziger Montagsdemonstrationen“ teilnahmen. Das Buch versteht sich als eine „Chronik der Erfolge zum 45. Jahrestag der DDR“ und als „kurzer Lehrgang für unsere Brüder und Schwestern in dem neuen, westlichen Teil der DDR“, von denen vielleicht einige „noch zögerlich am Wegrand der neuen Zeit stehen“.

Die Chronik der wundersamen Ereignisse enthält auch zahlreiche Berichte von altbewährten DDR- Politikern in den neuen Ländern. Bei einem Besuch des SED-Politbüromitglieds Werner Krolikowski in Bayern werden die Gäste am ehemaligen Grenzübergang Hirschberg vom Ersten Sekretär der Bezirksleitung München, Franz Xaver Kroetz, sowie dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Edmund Stoiber, und dem Bundesvorsitzenden der Nationalen Front, Heinrich Graf von Einsiedel, begrüßt. Stoiber, so wurde dabei hervorgehoben, habe sich große Verdienste erworben bei der Organisation eines großen Volksfestes zu Ehren der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, dem früheren Oktoberfest.

Im VEB Sachsenring Zwickau, Werk IV/Wolfsburg, versicherte der Leiter der Vorfertigung, „der spanische Kollege José Ignacio López“, aufgrund der Einführung der sowjetischen Krazcwyk-Methode seien die Voraussetzungen geschaffen worden, noch im selben Jahr 160.000 Auspuffanlagen zusätzlich zu produzieren. „Den überheblichen Einwand des anwesenden Generaldirektors von Zwickau, der inzwischen abgelöst wurde, soviel Auspuffanlagen brauche ,kein Schwein‘, hielt Genosse Harry Tisch nicht nur für obszön, sondern vor allem für falsch.“

Volksbildungsministerin Margot Honecker besuchte eine katholische Schule in Marburg und meinte zu den Mädchen, die neue Schulbildung mache ihnen sicherlich mehr Spaß „als immer nur Religionsunterricht, Kirchenlieder und Beten“.

In einer Rundfunksendung (B2) mit dem Autor äußerten sich kürzlich Hörer aus Ost und West zu dem Buch. Dabei wurde aus dem Westen manchmal eher der Gruseleffekt hervorgehoben, während es manche Ostdeutschen lockerer sahen. Ein Mann, der sich als „Wessi, der im Osten lebt“ bezeichnete, sagte, er habe Angst bekommen. Eine Westberlinerin bekam sogar eine Gänsehaut und sprach von einem „Meisterwerk der Dämonie“. Ein Hörer aus dem Ostberliner Stadtteil Hohenschönhausen meinte: „Wenn man es hinter sich hat, kann man es auch mit humoristischem Abstand sehen.“ Wilfried Mommert