Leben zwischen Tausenden Knöpfen

In der Rua da Conceicao der Lissabonner Unterstadt florieren nebeneinander zehn Kurzwarengeschäfte / „Die Mischung aus Masse und Spezialisierung macht es“  ■ Aus Lissabon Theo Pischke

Als König Manuel I. im 16. Jahrhundert verfügte, daß die Handwerksbetriebe der Hauptstadt Lissabon nach Berufssparten angesiedelt werden sollten, wollte er seinen Steuerfahndern die Arbeit erleichtern. Fortan gingen in Lissabon in der Rua dos Douradores die Vergolder der Stadt ihrem Gewerbe nach, und in der Straße der Leinenhändler war tatsächlich Leinen zu finden. Noch heute tragen die Straßen in der Baixa, der alten Unterstadt im Zentrum von Lissabon, die Namen verschiedener Berufssparten. Allerdings hat sich die mittelalterliche Gewerbeordnung inzwischen aufgelöst, und es liegen hier, wie in jeder anderen City, völlig unterschiedliche Geschäfte nebeneinander.

Eins dieser engen Gäßchen ist jedoch immer noch von einem Gewerbe geprägt: Offiziell heißt die Straße zu Ehren des portugiesischen Ordens der Schwestern von der Unbefleckten Empfängnis „Rua da Conceicao“. Doch der Lissabonner Volksmund hat sie in Rua dos Retroseiros, die Straße der Kurzwarenhändler, umgetauft: Auf 500 Metern Straßenzeile reihen sich hier zehn Kurzwarengeschäfte aneinander, und alle sind gesteckt voll mit Kunden.

Jeder Tourist kennt die Straße der Kurzwarenhändler, denn in ihrer Mitte durchquert die Straßenbahnlinie 28 die Baixa, bevor sie den Berg in Richtung Altstadt hinaufächzt. Das Schnaufen der Elektromotoren der Bahnen und das Puffen ihrer Luftdruckbremsen dringt durch die immer offenstehenden Türen in die kleinen Geschäfte. Der Laden von Orlando Mateus, Hausnummer 121, ist winzig wie alle. Er besteht seit Ende des vergangenen Jahrhunderts und wird seit 1988 von Mateus und einem Kompagnon betrieben. Hier gibt es alles, was zum Ausbessern von Kleidung, zum Schneidern, Stricken, Sticken, Häkeln und Nähen benötigt werden kann.

An den Wänden sind beigefarbene Kartons bis zur Decke gestapelt. Sie enthalten Tausende Knöpfe in allen Farben und Größen, aus Glas, Holz, Hirschhorn, Plastik, Metall oder Straß. Der teuerste Knopf kostet umgerechnet 53 Mark, der billigste ein paar Pfennige. Wer hier nicht fündig wird, für den suchen die Angestellten im Lager, gleich hinter dem Verkaufsraum. Dort stapeln sich weitere Kartons mit Knöpfen, Röllchen Nähgarn, Reißverschlüssen, bunten Zierperlen, Spitzen aus Seide oder Schweißblättern, die in die Achseln von Blazern und Jacketts eingenäht werden, wo sie den Stoff schützen sollen.

Bringt ein solches Kaleidoskop kleiner Dinge denn Gewinn? „Zehn Prozent Gewinn vom Preis einer Jacke ist mehr als zehn Prozent vom Preis eines Knopfes“, sagt Inhaber Orlando Mateus. „Doch bei uns macht es die Mischung aus Masse und Spezialisierung. Wir haben vieles, und wir haben davon alle Sorten, Farben und Größen. Die Kunden wissen, daß sie bei uns finden, was sie suchen.“ Millionär könne man damit nicht werden. „Doch ich verdiene genug.“

Das gesamte Leben des behäbigen Mateus ist durch die Kurzwaren geprägt worden. Mit 12 Jahren hat er in dem Gewerbe zu arbeiten begonnen, seither sind 43 Jahre vergangen. Das Geschäft hat er von seinem früheren Arbeitgeber übernommen. „Der hatte keine Kinder, die den Laden hätten weiterführen können“, erläutert Mateus. Viel verändert hat sich hier im Lauf der Zeit nicht: Unter der Stuckdecke stapelt sich die Ware, im engen Verkaufsraum treten sich die Kunden auf die Füße. Die neun Angestellten, die sich in dem engen Laden tummeln, haben alle Hände voll zu tun, die unterschiedlichen Kunden und ihre Wünsche zu bedienen. „Es kommen nicht nur Frauen hierher“, sagt Mateus, „sondern auch Männer: vom Schneidermeister, der hier sein Material einkauft, bis zum Bankangestellten, dem ein Knopf am Hemd fehlt.“

Angelica dos Santos ist 69 und hat ihr ganzes Berufsleben als Schneiderin gearbeitet. „Ich habe immer alles hier gekauft, was ich für meine Arbeit brauchte, weil es hier alles gibt“, sagt sie. Jetzt kauft sie nur noch für den Eigenbedarf. Heute braucht sie ein neues Gummi für ihren BH, weil das alte ausgeleiert ist. In Portugal wird noch heute Kleidung nicht gleich neu gekauft, sondern oft die alte ausgebessert.

Doch nicht nur wegen der geliebten Traditionen können sich die Kurzwarenhändler in der Rua dos Retroseiros bis heute über Wasser halten. Die alte Baixa sei zu eng, um dort ein Großkaufhaus hinstellen zu können, meint Mateus. Zwar reißen auch hier Spekulanten immer wieder Lücken in die alten Häuserreihen und ziehen an deren Stelle Büroklötze hoch, doch ist es ihnen bislang nicht gelungen, ein regelrechtes Kaufhaus dort hinzustellen. Und so kann der Journalist Julio Conrado in seinem Buch über die portugiesische Metropole schreiben: „Lissabon wird immer mehr zu einer Stadt der großen Kontraste. Es ist nicht mehr das, was es war. Es hat aber auch noch nicht aufgehört, das zu sein, was es gewesen ist.“