Fischers Wähler, Schumachers Fans

Während in der Bundespolitik die Parteien konturierte Lager repräsentieren, kommt es auf kommunaler Ebene zu Milieu-Überschneidungen / Das Beispiel der Stadt Kerpen  ■ Von Roger Peltzer

Die Vertriebene aus Rumänien, die Sozialhilfeempfängerin aus dem sozialen Brennpunkt und Mutter von drei Kindern, der Spezialist aus der Konzernzentrale, die ältere Dame aus dem Bibelkreis der evangelischen Kirchengemeinde und der Techno-Fan und PDS-Sympathisant haben eines gemeinsam. Sie alle haben bei der Kommunalwahl am 16. Oktober im nordrheinwestfälischen Kerpen nicht nur grün gewählt, sondern auch in ihrem Bekannten- und Familienkreis aktiv für grüne Stimmen geworben.

Mit 8,9 Prozent der Stimmen haben die Grünen in Kerpen (60.000 Einwohner) ihre Stimmenzahl gegenüber der letzten Kommunalwahl verdoppelt. Während sie vor fünf Jahren trotz wesentlich niedriger Wahlbeteiligung mit zwei Sitzen nur knapp über die Fünfprozenthürde gerutscht sind, verfügen sie jetzt immerhin über „komfortable“ fünf Sitze. Dies ist um so bemerkenswerter, als die beiden „alten“ Ratsmitglieder, darunter der Bruder des SPD-Vorsitzenden Scharping, die Partei ein Jahr vor der Wahl verlassen hatten.

Politische Überzeugungsarbeit

In Kerpen haben bis zu fünfzehn Prozent der WählerInnen bei den in NRW gleichzeitig stattfindenden Kommunal-, Kreistags- und Bundestagswahlen ihre vier Kreuze bei unterschiedlichen Parteien gemacht. Die Grünen, die sich angesichts begrenzter Kräfte auf Schwerpunktwahlkreise konzentriert hatten, konnten dabei bis zu zwanzig Prozent erzielen, und dies zum Teil in Stimmbezirken, in denen die „Republikaner“ bei der letzten Kommunalwahl noch relativ stark gewesen waren.

Vor zwei Jahren hat der grüne Landesverband eine detaillierte soziostrukturelle Analyse des grünen Wählerpotentials anfertigen lassen. Daraus haben im Erftkreis nicht wenige Grüne den Schluß gezogen, daß die Wahlergebnisse weitgehend determiniert und, wenn überhaupt, nur durch bundespolitische Ereignisse beeinflußbar seien.

Die Wahlergebnisse in Kerpen zeigen demgegenüber eindeutig, daß Grüne mit lokalen Themen (Autobahnverlegung, Abriß einer beliebten Grundschule etc.) und überzeugenden personellen Angeboten in jedem soziostrukturellen Umfeld deutlich überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen können. Das gilt für die Akademiker- wie die Arbeitersiedlung, den sozialen Brennpunkt wie die ländlich strukturierte Gemeinde. Und da, wo die Grünen bei der Kommunalwahl gut abschneiden, erzielen sie dann auch überdurchschnittlich gute Ergebnisse bei der Bundestagswahl.

Im Gegensatz zu der von Prof. Joachim Raschke seit Jahr und Tag vertretenen „Lager“-Theorie (hier rot-grüne Wähler – dort schwarze Wähler, siehe taz vom 19.11.94) zeigt der Vergleich von Bundestags- und Kommunalwahl in Kerpen deutlich: wenn die Grünen ihre Stimmen vervielfachen und ihr angestammtes Wählerreservoir verlassen, dann holen sie diese Stimmen gleichermaßen von der FDP, der SPD und der CDU.

Von der wachsenden Mobilität eines Teils der Wähler profitieren natürlich auch die anderen Parteien. So kann ein überzeugender CDU-Kandidat in einem „strukturellen“ SPD-Wahlkreis bei der Kommunalwahl seinen Konkurrenten bis zu fünfzehn Prozent der Bundestagsstimmen abjagen und mit großer Mehrheit ein Direktmandat gewinnen.

Die nicht neue, aber dennoch erfreuliche Erkenntnis lautet insofern, daß es viele Wähler in allen Lagern gibt, um die zu kämpfen es sich lohnt.

CDU: Der Einfluß von Geißler wirkt nach

Vor Jahren hat Heiner Geißler der CDU mit einem Strategiepapier ins Stammbuch geschrieben, daß sie sich personell und thematisch erneuern und öffnen muß, wenn sie nicht langfristig vergreisen und an politischem Einfluß verlieren will. Über die Tatsache, daß Heiner Geißler ins zweite Glied zurücktreten mußte, wird vielfach übersehen, daß der CDU-Parteiapparat diesem Strategiepapier – entgegen den Empfehlungen der FAZ-Leitartikler – weitgehender folgt, als dies in der Öffentlichkeit gemeinhin wahrgenommen wird.

So hat die CDU ihren Frauenanteil in Gemeinden, Kreisen und Landtagen zum Teil deutlich erhöht. Die sozial engagierte, moderne und jüngere Frau (nicht der Typus Nolte) findet sich heute eben auch bei der CDU. Und dieser Typus Frau kommt bei den WählerInnen so gut an, daß sie, wie sich in einem Wahlkreis Kerpens deutlich zeigt, selbst den Grünen Stimmen abnehmen kann.

Wenn die CDU sich nun allenthalben zu den Grünen hin öffnet, dann tut sie dies nicht nur, um nach dem Verschwinden der FDP regierungsfähig zu bleiben. Zum Teil spiegelt sich darin auch eine Erneuerung ihres politischen Personals – zumindest auf der unteren Ebene wider.

Im ländlichen, suburbanen Raum gibt es zudem bemerkenswerte schwarz-grüne Milieu-Überschneidungen. Dies galt schon immer für den engagierten christdemokratischen Gewerkschafter, dessen Frau in der Asylarbeit aktiv ist und grün wählt. Dies gilt auch für die jungen Eltern, die in einer Gemeinde wie Kerpen noch recht zahlreich sonntags zur Kirche gehen, und die je nach KandidatIn entweder CDU oder Grüne wählen. Und dies gilt für die Bauern, die mit ihren Herzen lieber den Argumenten von Graefe Baringdorf als den „Sachzwängen“ ihrer Verbandsfunktionäre folgen würden.

Vom Nutzen des Wahlkampfs

Geschuftet haben sie, das muß man der kleinen Schar der FDP- Mitglieder in Kerpen lassen. Obwohl sie so viele Flugblätter verteilt und Plakate geklebt hatten wie seit zehn Jahren nicht, haben sie dennoch mit 3,6 Prozent der Stimmen weit das Klassenziel verfehlt.

Dies heißt nicht, daß Wahlkampf überflüssig ist. Während allgemeine Forderungskataloge und Hochglanzbroschüren ungelesen im Papierkorb landen, zeigt das argumentative, auf konkrete Probleme zugespitzte Flugblatt eines grünen Kandidaten Trefferwirkung. Da kann es passieren, daß plötzlich wildfremde Menschen an der Haustür klingeln, um zum Wahlkampf zu gratulieren. Oder da sieht sich der politische Gegner gezwungen, teure Aufkleber in Auftrag zu geben, um die grünen Plakate heimlich zu überkleben.

Ein erheblicher Teil des Wahlkampfes von SPD und CDU bestand im Verteilen von Rosen oder auch im Austeilen von Freibier. Die Hände voller Rosen, haben dennoch nicht wenige Leute die Flugblätter der Grünen entgegengenommen. Und der folgende Kommentar dürfte nicht untypisch sein: „Jetzt habe ich mich von der SPD freihalten lassen, die Weißwurst bei der CDU gegessen und so einen Teil meiner Steuern zurückgeholt, aber wählen werde ich natürlich euch Grüne.“

Viele Wähler denken wesentlich politischer, als es die Werbestrategen den großen Parteien weismachen wollen. Und deshalb ist es auch nicht verwunderlich, daß die Grünen im Wahlkampf auf Anfrage Hunderte von Programmen zur Kommunal-, Kreistags- und Bundestagswahl losgeworden sind, und diese mehrfach nachdrucken beziehungsweise nachbestellen mußten.

Mit dem politischen Interesse steigen aber auch die Anforderungen an die Professionalität grüner Politik. Die Grünen können immer weniger auf den „Bonus der Anfänger“ hoffen. Spätestens nach dieser Wahl werden sie zu den etablierten Parteien gerechnet. Und da erwarten gerade die politisch interessierten Wähler, daß sich die grünen KandidatInnen bei öffentlichen Auftritten argumentativ gut behaupten. Wenn dann zum Thema Arbeitslosigkeit nur verbale Attacken gegen die ach so bösen Großkonzerne geboten werden, kommt auch bei einem freundlich gesinnten Publikum schnell nur noch dünnster Höflichkeitsapplaus.

In Zukunft werden sich SPD, CDU und Grüne zunehmend um die gleichen Wechselwähler streiten. Die Chance der Grünen ist, daß sie ihre originären Zukunftsthemen klar und deutlich vertreten können, während die großen Volksparteien zu diesen Themen zwangsläufig widersprüchlich agieren müssen. Diese Chance werden die Grünen nur mit politischer Professionalität und persönlich überzeugenden KandidatInnen voll nutzen können.

Abschied vom „Reformblock“

Das Denken in Kategorien eines Reformblocks aus SPD und Grünen, dem per Stimmzettel an die Macht zu helfen sei, bestimmte lange Zeit den politischen Diskurs der Grünen. Die Wirklichkeit ist diffuser und komplizierter. So sind nicht wenige grüne Sympathisanten in Kerpen Fans von Michael Schumacher und dem Autorennsport. Und die Tatsache, daß die SPD-Bundestagsfraktion ein sehr fortschrittliches Programm zur stärkeren Berücksichtigung von Fußgängern und Fahrradfahrern verabschiedet, hindert viele Kerpener Genossen nicht daran, jeden Millimeter Straße beziehungsweise Parkplatz für den PKW-Verkehr mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Andererseits finden sich in der CDU, der schärfsten Gegnerin eines Tempolimits, überzeugte und konsequente Vertreter des Ausbaus des öffentlichen Nahverkehrs. Diese Widersprüchlichkeiten zeichnet auch die Wähler aus, die zwar um die ökologischen Probleme eines weltweiten ungehemmten Wachstums wissen, aus Sorge um die kurzfristige Stabilisierung der Konjunktur und um ihre Arbeitsplätze dennoch mit Zweitstimme CDU oder SPD wählen. Die erste „Sympathie“- Stimme wird dann den Grünen gegeben, ein Wahlverhalten, das ich bei der Auszählung recht oft beobachten konnte, und zwar in allen denkbaren Kombinationen.

In diesem Umfeld besteht die Chance der Grünen darin, zum Zünglein an der Waage zu werden, sich von Fall zu Fall Mehrheiten für ihre Politik zu suchen und im übrigen konsequent Konjunkturen und Stimmungen auszunutzen, um mal in größeren, mal in kleineren Schritten Kernelemente einer Politik der ökologischen Wende und der demokratischen Öffnung der Gesellschaft durchzusetzen.

Aus lokaler Sicht ist dabei nicht einsichtig, warum es auf Dauer politisch sinnvoll sein soll, sich auf Rot-Grün festzulegen. Das macht weder politisch-taktisch Sinn, noch sind die inhaltlichen Bruchlinien so festgezurrt, wie es die Anhänger des „Lagerdenkens“ behaupten.

Die SPD steht den Grünen programmatisch sicher näher als die CDU, nur von der „Fortschrittlichkeit“ SPD bleibt meist sehr wenig übrig, wenn es an die Umsetzung geht. Deshalb wird es sehr interessant sein zu beobachten, wie es sich mit der Umsetzung schwarz-grüner Koalitionspapiere auf kommunaler Ebene verhält. Bei der Kommunalwahl in NRW haben viele WählerInnen nicht in tradierten Bahnen gewählt. Es ist zu hoffen, daß diese Flexibilität noch stärkere Berücksichtigung bei den Grünen findet.

Der Autor ist Politiker von Bündnis 90/Die Grünen in Kerpen