Das Schwarzbuch des Jahrhunderts

Erstmals unzensiert und auf deutsch: Die von den beiden Schriftstellern Wassili Grossmann und Ilja Ehrenburg herausgegebene Dokumentation über den Genozid an den sowjetischen Juden / Von Stalin verfälscht und verhindert  ■ Von Anita Kugler

Es gibt ein Weißbuch, ein Graubuch, auch ein Braunbuch, alles hochideologisierte Dokumentensammlungen über Verbrechen und Komplotte, mal bearbeitet vom Bund der Vertriebenen, mal von den Parteikadern der SED. Und natürlich gibt es Schwarzbücher über Atomkraftwerke und Franz Josef Strauß, über Berufsverbote und Helmut Kohl. Aber das „Schwarzbuch“, von dem all die banalen Enthüllungsbücher den Namen stahlen, gab es in Deutschland nie zu lesen. Sein vollständiger Titel, ganz im Stil der Sowjethistographie formuliert, lautet: „Schwarzbuch über die verbrecherische Massenvernichtung der Juden durch die faschistischen deutschen Eroberer in den zeitweilig okkupierten Gebieten der Sowjetunion und in den faschistischen Konzentrationslagern in Polen während des Krieges 1941-1945“. Dieses Schwarzbuch hat Arno Lustiger nun im Rowohlt Verlag herausgegeben. Es ist die Urfassung der Dokumentensammlung, die das „Jüdische Antifaschistische Komitee“ der Sowjetunion (JAK) seit 1943 anlegte und der Weltöffentlichkeit als Beweis für den Genozid an den Juden Osteuropas vorlegen wollte. Erarbeitet wurde es von der Literarischen Kommission des JAK unter Leitung von Wassili Grossmann und Ilja Ehrenburg. Das Unternehmen geriet freilich bei Kriegsende ins Stocken, weil es seinerseits zum Opfer, diesmal des stalinistischen Antisemitismus wurde. Es wurde zensiert, gekürzt, eingestampft. Die jetzt von Arno Lustiger edierte deutsche Ausgabe des Schwarzbuches ist die erste vollständige, das heißt unzensierte Fassung weltweit. Alle anderen Ausgaben – russisch 1980 in Jerusalem, englisch 1981 in New York, jiddisch 1984 in Jerusalem, hebräisch 1991 in Tel Aviv – bieten durchweg zensierte Textsammlungen. Das wurde klar, als 1992 eine Umbruchkorrektur der eingestampften Dokumentation zum Vorschein kam.

Die deutsche Ausgabe, in der alle zensierten Stellen durch Kursivschreibung kenntlich gemacht worden sind, ist in zweifacher Hinsicht ein ganz besonderes Dokument. Erstens enthält das Schwarzbuch die Zeugenaussagen von jüdischen Überlebenden aus der Ukraine, den baltischen Staaten, Belorußland, Rußland sowie den Vernichtungslagern von Polen, gesammelt zu einem Zeitpunkt, als das ganze Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen noch nicht bekannt war. Zweitens reflektieren die jetzt gut erkennbaren Manipulationen des Originalmanuskripts den wachsenden Haß Stalins auf die Juden.

Als die deutsche Armee im August 1941 kurz vor Moskau stand, konnte Stalin die Juden noch gut brauchen. Ihr Entsetzen über den faschistischen Völkermord ließ sich gut ummünzen, um weltweit zum Widerstand gegen die Nazis aufzurufen und um Geld für die Verteidigung der Sowjetunion zu sammeln. Er akzeptierte die Gründung einer sowjetischen Sektion des JAK; in den USA gab es schon ein derartiges Komitee. Stalin akzeptierte auch die Gründung der jiddischen Zeitschrift Ejnitkejt, die Berichte über den Genozid sammeln sollte. Und endlich erklärte Stalin sich auch einverstanden mit der Erarbeitung eines Schwarzbuches, in dem sowohl der Massenmord an den sowjetischen Juden als auch ihr Kampf in der Roten Armee und in den jüdischen Partisaneneinheiten dokumentiert wäre. Aber als das JAK 1945 endlich das Projekt hätte abschließen können, hatte sich die internationale Lage gewandelt. Deutschland war auch ohne Schwarzbuch besiegt, die Verbreitung von Nachrichten über das Leiden der Juden störte nur Stalins Bestrebungen, kommunistische Brückenköpfe im Westen zu bauen. Akzeptabel schien ihm einzig eine Kurzausgabe zu sein, um die sowjetische Anklage im Nürnberger Prozeß zu untermauern. Die sukzessiven Streichungen im Schwarzbuch-Manuskript zeigen die sich steigernde Repression gegenüber den Juden.

Erst säuberten die stalinistischen Zensoren das Manuskript von allen Passagen über die Kollaboration der einheimischen Bevölkerung mit den Nazis. Vollständig herauskorrigiert wurde der Länderbericht über die deutsch-rumänische Besetzung von Czernowitz in der Nordbukowina und alles über die Untaten der ukrainischen Nationalisten, der sogenannten Bandera-Leute. Die Beschreibung des Massakers in Babi Jar wurde um die Hälfte gekürzt, ebenfalls das Tagebuch der litauischen Ärztin Elena Kutorgiene-Buivydaite über die Vorkommnisse in Kaunas zwischen Juni und Dezember 1941.

Gestrichen wurden viele Passagen über den organisierten Widerstand von speziell jüdischen Partisanengruppen in Ostgalizien und Moldawien. Fast komplett herauszensiert wurden Berichte von ehemaligen Mitgliedern der Judenräte, zum Beispiel das Tagebuch von A. Jeruschali über das Ghetto im litauischen Siaulia. Zeilen wie: „Die Deutschen erklärten nie, alle Juden vernichten zu wollen, sie taten es, Schritt für Schritt“, durften nicht stehenbleiben. Und wegkorrigiert wurden endlich alle Sätze, aus denen klar hervorging, daß die Juden nur deshalb umgebracht wurden, weil sie Juden waren und nicht zufällig sowjetische Bürger jüdischer Nationalität.

Wegretuschiert wurden die Beschreibungen zerstörter Dörfer und Städte ebenso wie viele verbitterte Zeugenaussagen von Überlebenden, daß sie sich eine Zukunft nicht mehr vorstellen könnten. Ein Mädchen aus Auschwitz war zitiert worden: „Wir sind frei, doch freuen können wir uns darüber nicht. Wir haben zuviel erlebt und zu viele der Unseren verloren.“ Die Zensur beließ nur die drei Wörter: „Wir sind frei.“

Aber selbst diese verstümmelte Fassung schien Stalin, nachdem er einige Berichte dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg hat vorlegen lassen, nicht mehr genehm. Das JAK hatte seine Schuldigkeit getan. Jetzt wurden seine internationalen Kontakte als kosmopolitische Abweichungen gebrandmarkt. Die bereits gedruckten Bögen des x-mal zensierten Manuskriptes wurden 1947 beschlagnahmt, die Druckstöcke zerstört. Im November 1948 ließ Stalin das JAK auflösen und das umfangreiche Archiv in Geheimdepots schaffen. Solomon Michoels, der Präsident des JAK, starb bei einem mysteriösen Autounfall. Die Mitglieder des Komitees wurden verhaftet, 15 von ihnen nach einem Schauprozeß 1952 hingerichtet.

Unter den zum Tode Verurteilten waren auch vier der insgesamt 38 Autoren des Schwarzbuches, einige andere rettete nur Stalins Tod 1953. Verschont von jeglicher Anklage blieben hingegen die Vorsitzenden der Literarischen Kommission, Grossmann und Ehrenburg, beide loyale Stalinisten. Aber das waren andere ebenfalls. Es ist sehr bedauerlich, daß Arno Lustiger in seinem Nachwort über das JAK nicht besonders Ehrenburgs komplizierte Rolle schildert. Denn Ehrenburg gehörte zu den jüdischen Intellektuellen, die die von Stalin geforderte Distanzerklärung zum Zionismus nicht unterschrieben. Er protestierte sogar und wanderte dennoch nicht wie Tausende andere – darunter viele ehemalige KZ- und Ghettohäftlinge – in die Lager des Gulags.

Ehrenburgs Engagement für das Schwarzbuch ist auch unter einem anderen Aspekt hochinteressant. Denn noch während der Vorarbeiten 1944, also in der Phase des Berichtesammelns, entspann sich zwischen ihm und Grossmann eine Kontroverse. Während letzterer dazu riet, die bei der Redaktion der Literarischen Kommission eingegangenen Berichte über Greueltaten aus allen Teilen des Landes zu verallgemeinern, vertrat Ehrenburg die Ansicht, „daß die emotionale Wirkung des Zeugnisses eines Menschen der von Kunst sehr nahekommt“. In die Briefe sollte nicht eingegriffen werden, einziges Kriterium der Veröffentlichung sollte sein, ob sie interessant seien oder nicht. Diese Position war freilich schon im ersten Planungsstadium umstritten. Den Kommissionsmitgliedern lagen viele Skizzen vor, in denen „unverhältnismäßig ausführlich über die schändlichen Aktivitäten der Volksverräter unter den Ukrainern, Litauern etc. berichtet“ werde. Und diese Berichte würden die Kraft der Hauptanklage gegen die Deutschen mildern, so die Mehrheitsposition. Letztendlich entschied sich die Literarische Kommission gegen Ehrenburgs Votum für Authentizität. Alle Briefe, Skizzen, Zeugenaussagen wurden überarbeitet. Dem nach Territorien geordneten Material wurde jeweils ein Länderbericht vorangestellt.

Das jetzt vorliegende Schwarzbuch ist so zwar ein von der stalinistischen Zensur befreites Dokument, aber gleichzeitig auch ein Dokument des Willens zur Selbstzensur. Es spiegelt exakt wider, wie sehr die Autoren um eine politisch korrekte Stilisierung ihres Werkes bemüht waren. Die historische Genauigkeit blieb dabei auf der Strecke. Vor allem in den Berichten über die Länder, die wie die drei baltischen Republiken, Ost- Galizien, West-Wolhynien, das östliche Polen, im Zuge des Molotow-Ribbentrop-Pakts 1939 und 1940 von sowjetischen Truppen besetzt worden waren.

Ein besonders krasses Beispiel für solch einen ideologisch inspirierten und von Fehlern und Halbwahrheiten nur so strotzenden Länderbericht ist der über Lettland. Als ob die von den Nationalsozialisten dort verübten Greuel nicht schon schlimmm genug waren, mußten sie noch übertrieben werden. Da werden, um die sowjetische Okkupation im nachhinein zu rechtfertigen, die deutsch-baltischen Barone als besondere Sadisten beschrieben und die Juden, die sich zum großen Teil dem Deutschtum zugehörig gefühlt hatten, als leidenschaftliche Widerstandskämpfer gegen sie geschildert. Daß dabei die Namen der Täter und ihre SS-Ränge fast nie stimmen, spielt keine Rolle. Die Aktivitäten der lettischen Faschisten, die Pogrome auch ohne deutsche Befehle veranstalteten, werden nicht erwähnt. Ortsangaben und Daten über Massaker sind falsch, die Verantwortlichen dafür werden nicht genannt. Jüdische Widerstandsaktionen – wie zum Beispiel, daß die Synagoge von Riga militärisch verteidigt worden sei – sind glatt erfunden.

Derartig fehlerhafte und vom Herausgeber durch keinerlei Anmerkungen korrigierte Berichte seien, so der Historiker H.-H. Wilhelm auf einer Tagung des Berliner „Zentrums für Antisemitismusforschung“, „Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen“. Auch Bernhard Press, Zeitzeuge, äußerte sich entsetzt. Sein Vater hatte Ende 1945 dem JAK einen Bericht über das Rigaer Ghetto geschickt, die Abschrift nutzte Press später für sein Buch „Judenmord in Lettland“ (Berlin 1992). Der im Schwarzbuch geschilderte Ablauf der Ereignisse sei „geschichtsverfälschend“ und lasse, weil Kommentare fehlten, „erhebliche Zweifel über die Seriosität des ganzen Unternehmens zu“.

Der Herausgeber Arno Lustiger akzeptiert die Expertenkritik nicht. Hätte er das Buch vor der Drucklegung Historikern gegeben, damit diese einen wissenschaftlichen Apparat erstellten, „wäre es in zwanzig Jahren noch nicht erschienen“. Das Schwarzbuch sei ein „zeitgebundenes Dokument“ und gebe Laien einen ersten Überblick über den Mord an den Juden im europäischen Osten. Eine fahrlässige Behauptung, denn mit Fehlern können Historiker umgehen, Laien aber nicht. Daß Lustiger dies weiß, hat er selber im Kapitel über Litauen bewiesen. Hier findet man korrigierende, für ein solches Editionsprojekt unverzichtbare Anmerkungen. Aber nur hier.

Die zahlreichen Irrtümer und Geschichtsklitterungen, die der parteiliche Standpunkt der Autoren in die Berichte hineingetragen hat, hätten durch einen Anmerkungsapparat des Herausgebers objektiviert werden müssen. Daß dieser über weiteste Strecken fehlt, ist eine gravierende Schwäche des Buches. Dennoch hat die Dokumentation unschätzbaren Wert. Sie bietet eine Sammlung von Augenzeugenberichten, die schlechthin unersetzlich sind, weil sie in vielen Fällen die einzigen sind, die wir haben. Und zugleich dokumentiert sie den Zugriff der offiziellen stalinistischen Zensur in frappierender Weise. Was hier vorliegt, ist zweifellos das wichtigste Schwarzbuch des Jahrhunderts.

Wassili Grossmann, Ilja Ehrenburg (Hrsg.; für die dt. Ausg.: Arno Lustiger): „Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden“. A. d. Russ. von Ruth und Heinz Deutschland. Rowohlt, Reinbek 1994, 1.148 S., 98 DM