Ein geraubter Tod

Madame Grès, verstorbene Sphinx der Haute Couture – fast nahtlos modern, aber glücklos  ■ Von Anja Seeliger

Das schönste Kleid der Ausstellung ist das letzte. Im Viktoria-und-Albert- Museum in London kann man stundenlang an Vitrinen vorbeiwandern und die Zeugnisse längst vergangener Moden bewundern. Tages- und Abendkleider aus Brokat, Seide, Baumwolle und Musselin, dazu Handtaschen, Schuhe und Fächer. Man sieht auch, was die Frauen unter ihren Kleidern trugen, Reifröcke aus Eisen, über die man voluminöse Röcke fallen ließ, Polster die bewirkten, daß die Hüften etwa zwei Meter breit waren, während der Stoff an Bauch und Hinterseite flach herab fiel. Und dann die Korsagen: Die Brüste einzwängend oder hervorpressend, verformten sie den Körper erst zu einer Sanduhr und schließlich zu einem S. Etwa seit dem Ende des letzten Jahrhunderts haben die Schöpfer dieser Kunstwerke Namen. So spaziert der Besucher vorbei an Kleidern von Worth, Poirot, Chanel, Dior, Vionnet, Saint Laurent, Courrèges und schließlich Westwood und Galliano. Das letzte Kleid in der letzten Vitrine ist von Alix Grès – obwohl die Grès eigentlich zur Generation von Chanel und Vionnet gehört. Aber die Ausstellungsmacher des Museums haben diesem Kleid einen besonderen Platz eingeräumt.

Es ist aus einem cremefarbenen, weichen Stoff, der sich um den Oberkörper der Puppe schmiegt und dann nach unten ein wenig auseinanderfällt, gerade so viel, daß auch beim Gehen noch Spielraum ist. Um den runden Halsausschnitt scheint eine geflochtene Bordüre drapiert zu sein. Es ist ein einfaches Kleid, doch kein anderes in dieser Ausstellung kommt ihm gleich an Eleganz. Um dieses Kleid zu beschreiben, müßte man all das anführen, was die Grès weggelassen hat: Knöpfe, Ärmel, Futter, Schulterpolster. Und Nähte. Ich erinnere mich nicht mehr, wo die Naht war, es muß eine gegeben haben. Jedenfalls war sie nicht dort, wo sie hingehörte. Nicht an der Seite und auch nicht an der Bordüre. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, daß dieser geflochtene Stoffstreifen nicht aufgenäht war. Er kam aus dem Kleiderstoff hervor, war direkt mit ihm verwoben, ohne daß man auch nur hätte erahnen können, wie das möglich sein sollte. In der glanzvollen Geschichte der Mode gab es nur zwei couturiers, deren Wissen um einen Stoff und seine Möglichkeiten aus der Antike zu stammen schien, beides Frauen: Madeleine Vionnet und Alix Grès.

Seit 1990 war Alix Grès verschwunden. Auch die japanische Firmengruppe Yagi Tsusho Limited, die ihr Modehaus 1987 gekauft hatte, kannte ihre Adresse nicht. In diesem Sommer zeigte das Metropolitan Museum in New York in einer Ausstellung über 80 ihrer Kleider. In einem Brief an das Museum bedankte sich Madame Grès artig und schrieb: „Am liebsten erinnere ich mich an die Huldigungen, die mir für meine Arbeit und meine Berufsauffassung erwiesen wurden.“ Letzte Woche nun erfuhren die schockierten Ausstellungsmacher aus der französischen Zeitung Le monde, daß diesen Brief ihre Tochter Anne geschrieben hat. Nach einer Reihe von Rückschlägen, in deren Folge sie mehr als nur ihr Vermögen verloren hatte, war Madame Grès am 24. November 1993 in einem Altersheim in der französischen Gemeinde Var gestorben.

Warum hat die Tochter den Tod ihrer Mutter so lange geheimgehalten? Vor einigen Wochen machte sich die französische Journalistin Laurence Benaäm auf die Suche nach der verschwundenen Madame Grès. Sie fand die Tochter Anne in einem Haus in Südfrankreich, wo die 55jährige zusammen mit ihrem 13jährigen Sohn lebt. „Mama ist nicht da.“ erklärte sie der Journalistin. „Sie weiß nicht mehr, wer ich bin. Sie ruht sich aus und hört Musik. Es ist, als ob man ihr ein Stück Gehirn herausgenommen und auf den Müll geschmissen hätte. Ich will nicht, daß jemand sie so sieht, es wäre ein Verrat. Sie trägt ihren Turban nicht mehr.“ Und ergänzte bitter: „Die Leute aus der Branche, ich spucke auf sie. Außer Cardin und Givenchy hat niemand versucht, ihr zu helfen. Sie haben sie alle fallenlassen. Ihr Tod? Davon wird niemand erfahren, nur die Menschen, die sie lieben.“

Die Journalistin erfährt schließlich, was in den letzten Jahren geschehen ist: 1990 verläßt Anne mit ihrer Mutter und ihrem Sohn Paris und geht nach Saint-Paul-de- Vence, an die Cote d'Azur, wo die Familie ein Haus besitzt. Ein Jahr später bringt sie ihre Mutter zunächst in einem Altersheim unter, das auf die Pflege geistesschwacher alter Menschen spezialisiert ist, und im August 1993 schließlich in das Heim, in dem Alix Grès drei Monate später stirbt. Anne hat inzwischen die Kleider verkauft, die Juwelen und die Möbel. Ebenso ein Landhaus in der Bretagne und das Haus in Saint-Paul.

Eigentlich hatte Alix Grès Bildhauerin werden wollen. Statt dessen belegte sie einen dreimonatigen Zuschneidekurs und nähte in ihrem Zimmer eine Kollektion aus Nessel, die sie nach eigenen Zeichnungen anfertigte. Der Legende nach marschierte sie mit ihren Zeichnungen zu Michel de Brunhoff, Herausgeber von Vogue, und bat ihn um sein Urteil. Brunhoff erklärte ihr, sie solle sich einen anderen Beruf suchen, sie sei total unbegabt. Das muß an den Zeichnungen gelegen haben. Denn wie Vionnet entwarf sie ihre Kleider nicht auf dem Papier, sondern erprobte den Fall eines Stoffes erst an einem Holzmannequin und drapierte ihn dann am lebenden Modell. 1934 eröffnete sie ihr eigenes Haus unter dem Namen Alix Barton. Bei Ausbruch des Krieges war sie trotz ihres Erfolges faktisch pleite. Dazu beigetragen haben die kostspieligen Hobbys ihres Mannes: Autos und Rennpferde. Sie liquidierte, trennte sich von ihrem Mann, heiratete erneut und eröffnete schließlich 1942 wieder ein eigenes Haus in der Rue de la Paix, diesmal unter dem Namen Grès, ein Anagramm aus dem Vornamen ihres zweiten Mannes Serge Czerefkov, einem russischen Maler, der 1937 nach Polynesien reiste und nie mehr zurückkam. Ihr Geburtsdatum hielt sie ihr Leben lang geheim. So wie Coco Chanel immer die Armut ihrer Familie übertrieben hatte, übertrieb Madame Grès deren Reichtum. Zeitlebens behauptete sie, aus einer Industriellenfamilie zu stammen, in Wahrheit kam sie aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Ihre Familie lebte in Sucy-en-Brie, wo Madame Grès am 30. November 1903 unter dem Namen Germaine Emilie Krebs geboren wurde. Sie haßte Fotos und Interviews. 1980 kaufte sie die Restauflage des einzigen Buches auf, daß je über sie erschienen war, um sie zu verbrennen. Und sie verhinderte im letzten Moment eine Retrospektive, die im Pariser Musée de la Mode für sie organisiert worden war. Aus diesem Grund muß man sich die Handvoll übriggebliebener Fotos von ihren Kleidern aus verschiedenen Modebüchern zusammensuchen. Oder sich die Marlene-Dietrich-Filme „Desire“ und „Shanghai Express“ ansehen, für die sie die Kostüme entworfen hat.

1935 entwickelte Rodier für sie einen Seidenjersey, der so dehnbar und elastisch war, daß der Stoff selbst bei strammer Drapierung noch den Körperbewegungen folgen konnte. Später veranlaßte sie Rodier, diesen Stoff in einer Breite von zwei Meter zu wirken. So konnte sie Modelle nähen, die kreisrund geschnitten waren und kaum Nähte benötigten. Rudolf Kinzel schreibt in seinem Buch „Die Modemacher“: „Mit ihrer Technik war es möglich, Abendkleider zu fertigen, die gleichzeitig in einem Stück ein Abendcape enthielten. In die extreme Weite des Rockes war ein Teil eingeschnitten, das die Trägerin hochnehmen und sich um Kopf und Schulter legen konnte, ohne den Rock zu entfalten. Diese Grès-Spezialität setzt einen enormen Stoffverbrauch voraus und eine Qualität des Stoffes, die es zuläßt, mehr als 20 Meter in einem Rock zu verarbeiten, ohne daß dieser sich voluminös zu bauschen beginnt.“

Madame Grès war immer ganz und gar geheimnisvoll. Selbst ihre Kleider schienen vor allem eines zu sagen: „Schweigen Sie.“ Sie war klein, zart, mit schwarzen Augen und einer hohen Stirn. Während der Arbeit trug sie meistens einen Rock aus grauem Wollstoff, ein graues Jerseytricot, hautfarbene Strümpfe und schwarze Schnürschuhe, wie sie bevorzugt von Krankenschwestern getragen wurden – ein wenig sah sie wie die Vorsteherin einer Sonntagsschule aus. Doch dieses harmlose Bild wurde nachhaltig von dem unvermeidlichen schwarzen Turban korrigiert, von dem Edmonde Charles-Roux meinte, sie habe ihn sich von einem Bild von Ingres abgeschaut. 1966 sagte er über sie: „Sie trinkt nicht, raucht nicht und geht nicht aus. Sie ist die Fee Melusine, die sich als Nonne ausgibt, eine Äbtissin, die im Mercedes vorfährt.“ Auch ihr Haus in der Rue de la Paix hatte die Strenge eines Pensionats: Keine Vitrinen mit Accessoires, keine Verzierungen, statt dessen cremefarbene Wände, helle Holzmöbel und ein großer Teppich.

Sechs Monate nach seiner Eröffnung, mußte sie es wieder schließen. Der Grund bleibt im dunkeln. Madame Grès behauptete später, die Nazis hätten an ihren blau-weiß-roten Ballkleidern Anstoß genommen. Andere sagen, sie sei dabei erwischt worden, wie sie ihre Stoffe auf dem Schwarzmarkt gekauft habe. Nach dem Krieg eröffnete sie wieder. Ihre Kleider waren außerordentlich modern, und sie war eine der ersten, die Shorts in der Haute Couture präsentierte und die Erotik der Schnitte und Schlitze ins Extrem trieb. Ihre Arbeitsweise jedoch war anachronistisch. Anders als etwa Dior, der nach 1948 eine Politik der Lizenzverträge entwickelte, weigerte sich Madame Grès, ihr Markenzeichen für etwas anderes als Haute Couture herzugeben. Ihre Kleider wurden auf das gewissenhafteste ausgeführt, Falte für Falte, Millimeter für Millimeter, bisweilen waren bis zu 300 Arbeitsstunden für ein Kleid nötig. Das Haus machte bald enorme Defizite.

Sie schluckte ihren professionellen Stolz und brachte 1959 ein Parfüm namens Cabochard und zehn Jahre später ein zweites, Cabotine, auf den Markt. Geschäftlich ein kluger Zug, aber retten konnte sie das Haus dennoch nicht. Sie übernahm die Schulden ihrer Familie, und 1974 mußte sie wegen eines Vertragsbruchs zehn Millionen Franc an einen amerikanischen Konzessionär bezahlen. Sie zahlte bar.

1982 verkaufte sie ihre Parfüms, die rentabelsten Produkte, und investierte den Erlös in ihr Haute- Couture-Haus. Trotzdem mußte sie 1984 an Bernard Tapie verkaufen, der davon träumte, die Marke durch eine Prêt-à-porter- und eine Möbellinie wiederzubeleben. Madame Grès fand an derartigen Vulgaritäten keinen Geschmack. 81 Jahre alt, stets von ihrem furchteinflößenden Pekinesen Musig begleitet, weigerte sie sich, auch nur eine Unze ihrer Macht abzugeben. „Ich, Monsieur, werde in Museen ausgestellt, das wird Ihnen niemals passieren“, soll sie im Zorn zu Tapie gesagt haben. Dem war das sicherlich vollkommen schnurz, er wollte nur eine Prêt-à-porter-Kollektion. Er warf das Handtuch, als sich die Arbeiterinnen aus Respekt vor Madame weigerten, die Modelle für die Kollektion fertigzustellen. Madame Grès hatte ihr Atelier immer mit einer Strenge geführt, die ihr die bedingungslose Unterwerfung und Liebe ihres Personals sicherte. Eine ehemalige Première d'atelier berichtet in Le monde: „Wir drapierten die Stoffe Falte für Falte mit runden Nadeln. Dann präsentierten wir ihr die Modelle. Wir stellten uns in die Schlange vor dem Studio, schweigend. Sie war sehr beeindruckend. Am Ende weniger.“

Tapie verkaufte das Haus 1986 an Esterel, 1987 wurde es endgültig liquidiert. Madame Grès wiederum verkaufte ihr Markenzeichen für zehn Millionen Franc an die japanische Gruppe Yagi Tsusho Limited. Der Vertrag sah keine Lizenzen für sie vor, sie war endgültig draußen. Einige Jahre später erzählt Anne Grès der Journalistin Benaäm, wie die Liquidation vonstatten ging: „Man hat das Mobiliar und die Schneiderpuppen mit der Axt zerschlagen, die Stoffe und die Roben in Müllsäcke gestopft – eine schreckliche Verwüstung. Ich hatte Julio, dem Chauffeur, verboten, meine Mutter dorthin zu fahren. Sie tat es trotzdem. Ich sehe sie noch in ihrem kleinen schwarzen Kleid. Sie sah aus, wie ein Gespenst.“

Yagi Tsusho hat sich auf den Import europäischer Textilien spezialisiert. Die Gruppe vertreibt unter dem Markenzeichen Grès ein Luxus-prêt-à-porter, das seit zwei Saisons von dem 27jährigen Frank Lloyd Klein entworfen wird. Wie Le monde berichtet, hat die Firma mit Büros in Osaka und Paris seit 1988 16 Lizenzverträge geschlossen: in Japan findet man unter dem Markenzeichen Grès nun auch Tischwäsche, Gürtel und Schuhe. Gerüchten nach beabsichtigt Yagi Tsusho, die Grès-Marke zu verkaufen – die New Yorker Ausstellung soll von der japanischen Firma finanziert worden sein, um den Preis hochzutreiben. Die Parfüms gehören seit 1989 Althus, einer Filiale der Financiers de Manufactures, die wiederum der Crédit Lyonnais gehört. Die Marke ist erfolgreich: im letzten Jahr machte sie einen Umsatz von 110 Millionen Franc, 15 Prozent netto Reingewinn. Asien ist einer der größten Märkte für die Grès-Parfüms. Aber auch für ihre Parfüms bekam Madame Grès keine Lizenzgebühren.

„Alle die Leute die von ihr profitiert haben, hätten nur ein weiteres Mittel gefunden, auf ihre Kosten zu brillieren. Sie hätten gesagt: ,Ach, ich habe sie so geliebt, ich habe sie gut gekannt.‘ Ihr Tod war ein Geheimnis aus Liebe“, erklärte Anne Grès nach dem Bekanntwerden des Todes ihrer Mutter gegenüber Le monde. Und so ist Madame Grès gegangen, wie sie gelebt hat: schweigend.