■ Die Menschenrechtsfrage in der Außenpolitik
: Die Türkei muß in die EU!

Am Montag abend hat die Europäische Union den Abschluß einer Zollunion mit der Türkei erneut vertagt. Der formale Grund ist einfach: Griechenland, dessen Politestablishment mit dem türkischen herzlich verfeindet ist, blockiert den Zollvertrag genauso wie einen Großkredit, den die EU der Türkei schon vor Jahren zugesagt hatte. Doch die Einwände Griechenlands gegen eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU sind im Moment nicht mehr als willkommener Vorwand. Wenn die Großen innerhalb der Union wollten, wäre der griechische Vorbehalt sicher auszuräumen – tatsächlich sind aber sowohl Deutschland, dessen Ratsvorsitz Ende des Jahres ausläuft, wie auch Frankreich, das den Vorsitz ab Januar übernimmt, ganz glücklich, sich hinter den Griechen verstecken zu können.

Seit den Skandalurteilen gegen die acht kurdischen Parlamentsabgeordneten vor zwei Wochen stehen die europäischen Regierungen unter Druck, in Ankara vorstellig zu werden. Eigentlich wäre nun eine härtere Gangart gefragt. Nachdem das europäische Parlament bereits mehrheitlich gefordert hatte, den Vertrag über die Zollunion zum Hebel in Menschenrechtsfragen zu machen, brauchten die Außenminister, dank Griechenland, sich dieser Debatte nun nicht zu stellen. Erst mal vertagen, Wiedervorlage irgendwann im Frühjahr 1995. Als Erfolg dieser Politik verkündete Ankaras Ministerpräsidentin Tansu Çiller ganz ungeniert, wegen der Zollunion würde ihre Regierung in der Menschenrechtsfrage keine Konzessionen machen.

Damit können nun alle zufrieden sein: Europa hat sich empört, die Außenminister der EU haben einen Dreh gefunden, daraus keine politischen Konsequenzen ziehen zu müssen, und die türkische Regierung kann sich damit brüsten, sie lasse sich von außen nicht unter Druck setzen. Pech nur für die kurdischen PolitikerInnen. Sie bleiben im Knast, der Krieg im Südosten der Türkei geht unvermindert weiter. Eine politische Lösung ist weiter entfernt denn je.

Der Fall ist symptomatisch für die Politik der EU gegenüber der Türkei. Seit dem Militärputsch 1980 wird pflichtgemäß immer mal wieder protestiert, ohne letztlich für die türkische Regierung wirklich schmerzhafte Konsequenzen zu ziehen. Die werden an anderer Stelle diskutiert und exekutiert, ohne daß dabei die Frage der Menschenrechte irgendeine Rolle spielen würde. Beispielsweise, wenn es um die Kontingente geht, die die Türkei auf dem Textil- und Agrarsektor in die EU liefern darf. Oder wenn die Frage der Freizügigkeit für türkische Staatsbürger innerhalb der EU wieder einmal auf der Tagesordnung steht. Das Verhältnis Westeuropas zur Türkei ist ein Paradebeispiel dafür, wie durch falsche Versprechungen die Chance verspielt wurde, ein überwiegend islamisches Land in den europäischen Kulturkreis zu integrieren.

Seit die Türkei auf amerikanisches Drängen Mitte der 50er Jahre Mitglied der Nato (es ging um die Grenze zur UdSSR) wurde, winkt Westeuropa mit dem Beitritt zum europäischen Markt. In der kemalistischen Führungsschicht fanden sich begeisterte Partner, die auch ideell nach Europa drängten und ihr Land zur berühmten Brücke zwischen Okzident und Orient machen wollten. Möglich, daß beide Seiten 1963, als der Assoziierungsvertrag mit der Türkei abgeschlossen wurde, noch daran interessiert waren, den Vertrag auch umzusetzen – spätestens seit 1973 war dieses Interesse im Westen dahin. In diesem Jahr verhängte die damalige Regierung Schmidt den Anwerbestopp für Arbeitsmigranten aus der Türkei, begannen die Schikanen gegen die sogenannten „Gastarbeiter“ und ihre Familien und wurden die ersten Programme ersonnen, die die Einwanderung wieder umkehren sollten.

Mit dem Ende der hohen Wachstumsraten und dem schon damals aus dem Ruder laufenden Subventionshaushalt für den EG- Agrarmarkt war die Liaison zwischen Westeuropa und der Türkei de facto beendet. Nur wollte es den Türken niemand sagen, schließlich wurden und werden sie innerhalb der Nato noch gebraucht.

Die ausbleibende Öffnung des westeuropäischen Marktes und die Stagnation im Devisenzufluß der „Gastarbeiter“ nach dem Anwerbestopp waren mitverantwortlich für das Desaster der türkischen Gesellschaft Ende der 70er Jahre, welches letztlich den Militärputsch 1980 legitimierte. Da der Putsch sich vornehmlich gegen die Linke richtete, wurde er von der Nato offen und den EG-Regierungen stillschweigend unterstützt – spätestens seitdem wissen türkische Militärs und sonstige Sicherheitspolitiker, was sie von öffentlichen Protesten gegen Folter, Unterdrückung von Minderheiten und Einschränkung der Meinungsfreiheit zu halten haben. Jetzt rächt sich das Desinteresse Europas an der zivilen Gesellschaft der Türkei.

Seit Jahrzehnten gibt es eine wohlfeile Debatte um Sinn und Unsinn der Durchsetzung von Menschenrechtsfragen in der Außenpolitik. Diese Frage läßt sich im Grundsatz nicht entscheiden – eine generelle Kontaktsperre gegenüber allen Regimen, die sich menschenrechtswidriger Praktiken bedienen, würde lediglich das Reisebudget des Außenministeriums drastisch reduzieren.

Ob und mit welcher Intensität die Einhaltung demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen zur Voraussetzung für staatliche Zusammenarbeit gemacht werden sollte, wird sich von Fall zu Fall erheblich unterscheiden. Es ist offensichtlich, daß ein deutscher Boykott Chinas dem Politbüro in Peking nicht den Schlaf rauben würde.

Komplizierter ist es zum Beispiel beim Iran. Sicher könnte die Bundesregierung mit gezielten Sanktionsdrohungen die Mullahs dazu zwingen, bestimmte individuelle Menschrechtsstandards einzuhalten. Unter dem Strich hätte der Iran bei einem Abbruch der Beziehungen zur Bundesrepublik mehr zu verlieren als umgekehrt. Trotzdem ist es eine Illusion zu glauben, die Deutschen oder auch die EU im Gesamtverband könnten das Regime in Teheran durch Sanktions- oder Boykottdrohungen zu einer substantiellen Änderung seiner Politik zwingen. Kein Regime gibt seine Identität durch Druck von außen auf, es sei denn, es wird durch veränderte Rahmenbedingungen Schritt für Schritt in einen Transformationsprozeß gedrängt.

Genau diese Chance bestand – und besteht vielleicht noch – im Verhältnis zur Türkei. Ein glaubwürdiges Angebot zum Beitritt in die Europäische Union würde den laizistischen und zivilen Teil der türkischen Gesellschaft unterstützen und damit fast zwangsläufig zu einer innenpolitischen Veränderung führen, die dann auch von außen sinnvoll flankiert werden könnte. Das jetzige Verhalten der EU bewirkt genau das Gegenteil. Jürgen Gottschlich