Moskau ohne Aussicht auf militärischen Sieg?

■ Tschetschenische Gegenwehr bremst russischen Vormarsch auf Grosny / Die russischen Generäle stehen vor der Entscheidung: Grosny überrennen oder Rückzug

Wien (taz) – Auch gestern ging der Widerstand der Tschetschenen gegen die russischen Belagerer von Grosny weiter. Nach Einschätzung von Militärbeobachtern haben Rußlands Truppen Geländegewinne in Richtung Grosny gemacht. Den angestrebten Ring um die Stadt konnten sie jedoch an mehreren Abschnitten nicht schließen. Hunderte tschetschenischer Kämpfer versammelten sich im Zentrum und zogen dann in die Außenbezirke, wo sie den Widerstand verstärkten.

Am nördlichen Stadtrand der kaukasischen Hauptstadt kam es zu offenen Kämpfen zwischen Rebellen und der russischen Armee. Unbestätigten Berichten zufolge sollen die Tschetschenen einen Kampfhubschrauber abgeschossen haben, worauf die Russen das Dorf Petropavlovskaja 20 Kilometer vor Grosny unter Beschuß genommen hätten. Über Tote und Verwundete schwiegen sich beide Seiten aus.

Hartnäckig hielten sich gestern in Moskau Gerüchte, ein Großangriff auf Grosny stände dennoch bevor. Nach Ansicht von Militärexperten ist jetzt der Punkt gekommen, entweder die tschetschenische Hauptstadt zu überrennen oder sich aus der Krisenregion ganz zurückzuziehen. Pavel Felgengauer, Kommentator der Moskauer Tageszeitung Sevodnja sieht keinen dritten Mittelweg. „Je länger Jelzin mit einem Einsatz zögert, um so höher werden die Verluste“, behauptet der Kaukasus- Experte. Denn auch Tschetscheniens Präsident Dschochar Dudajew habe in den vergangenen Tagen alle Vorbereitungen treffen können, um „die russischen Truppen in heimtückische Hinterhälte zu locken“. Die Tschetschenen seien mittlerweile auf einen Kleinkrieg in Partisanentradition bestens vorbereitet und könnten sich zunehmend auf Unterstützung anderer Kaukasusvölker verlassen. Die Zeit sei abgelaufen, Dudajew in einem Blitzangriff geschulter Fallschirm- und Nahkampfverbände kurzerhand zu entmachten. In einer gemeinsamen Erklärung appellierten gestern linke und rechtspopulistische Politiker erneut an Kremlchef Boris Jelzin, seine Entscheidung mit militärischen Mitteln Ordnung zu schaffen, noch einmal zu überdenken. Oleg Orlow von der Menschenrechtsgruppe „Memorial“ warnte zusammen mit einer Gruppe Moskauer Abgeordneter, die vor zehn Tagen aus Solidarität mit der tschetschenischen Bevölkerung nach Grosny aufgebrochen waren und dort so lange aushalten wollten, bis „alle Kampfhandlungen eingestellt sind“, vor den Gefahren, „ein Volk mit der Sprache von Bomben zu disziplinieren“. Fazit ihres verzweifelten Aufschreis: „Das moralische Bewußtsein des russischen Volkes lehnt Lüge und Gewalt ab.“ Wie der kaukasische Knoten jedoch gelöst werden könnte und welches Ausmaß an Autonomie sie den Kaukasusvölkern zugestehen würden, wußten die Parlamentarier auch nicht zu vermitteln. Sie hielten lediglich daran fest, noch seien nicht alle „Möglichkeiten zur friedlichen Beilegung des Konflikts ausgeschöpft worden“. Karl Gersuny