Aus Kunstliebe abgeschafft

■ Ein metropolitaner Kunsttunnel wurde zum Werbe- schlauch: Der „Mäusegang“ im U-Bahnhof Stadtmitte ist weg

Man kann der BVG bestimmt einiges vorwerfen. Nicht aber, daß sie kunstfeindlich sei. Auf einem runden Dutzend U-Bahnhöfe hängt Kunst statt Werbung: am Moritzplatz, am Rosa-Luxemburg-Platz, an der Samariterstraße, am Bahnhof Lichtenberg, am Alexanderplatz, wo die Verkehrsbetriebe und der Kultursenator junge KünstlerInnen mit 200.000 Mark pro Jahr unterstützen...

Auch als vor dreieinhalb Jahren Daniel Pflumm und Pit Schultz, Mitglieder des alternativen Kunstvereins Botschaft, mit ihrem „Mäusegang“-Projekt für den U-Bahnhof Stadtmitte vorstellig wurden, waren die BVG-Oberen schnell zu unbürokratischer Hilfe bereit – zumal Stadtmitte, so Detlef Kuno, bei der BVG zuständig für die Werbetochter VVR Berek, werbemäßig ohnehin als „Friedhof“ galt. Pflumm und Schultz strichen die 24 hölzernen Plakatwände in dem Verbindungsgang zwischen den U-Bahnlinien 6 und 2 weiß und malten in Lautschrift die Namen von 23 Metropolen aus allen Erdteilen darauf.

Fortan konnte, wer durch diesen Gang hastete, sich auf eine imaginäre Reise um die Welt begeben – von Kinshasa nach Buenos Aires, von Singapur nach New York, von Paris nach Hong Kong. Der Name Berlin tauchte zweimal auf, am Anfang und am Ende des Korridors. Eine ebenso einfache wie faszinierende Arbeit: durch die phonetischen Schriftzeichen gerade so weit verschlüsselt, daß Irritation entstand und dennoch – auch ohne Deutschkenntnisse – für jeden leicht verständlich. Eine Arbeit, die die Passanten für eine Weile aus ihrem Trott riß, die ganz unprätentiös Internationalität atmete. Kunst im öffentlichen Raum von seltener Qualität.

Drei Jahre ging das gut. Bis vor ein paar Wochen damit begonnen wurde, die Plakatwände nun doch mit Werbung zu überkleben. Mittlerweile ist der „Mäusegang“ komplett verschwunden. Wer nun nach den Ursachen für die Zerstörung fragt, der stößt auf eine Groteske, die ihresgleichen sucht.

Die Schrifttafeln im Mäusegang wurden, gibt Kuno unumwunden zu, nicht etwa aus finanziellen Gründen mit Plakaten „schnöde“ zugekleistert. Sondern aus ästhetischen Erwägungen. Im Lauf der Zeit seien zu viele Graffiti auf die Tafeln „geschmiert“ worden; und so trieb die BVG den Teufel mit dem Beelzebub aus: „Der Mäusegang wurde immer unansehnlicher. Daher haben wir aus der Not eine Tugend gemacht und die Tafeln einfach überklebt.“

Ihm täte das „schon ein bißchen leid“, um so mehr, als er persönlich durchaus Gefallen an der Arbeit gefunden habe. Aber: „Wir werden der Graffiti nicht mehr anders Herr.“ Werbeplakate seien da „ideal“, denn die brächten nicht nur etwa 30.000 Mark Umsatz jährlich, sondern hätten gegenüber den Schriftbildern einen weiteren entscheidenden Vorteil. Sie werden jede Woche neu angebracht – für ausufernde Tags ist, meint Kuno, also gar nicht die Zeit.

Derweil bemühen sich Pflumm und Schultz um Möglichkeiten, den „Mäusegang“ zu rekonstruieren. Sie schlagen vor, die Tafeln so zu versiegeln, daß sich Graffiti leicht abwaschen lassen. Auch an Unterstützung durch Sponsoren aus der Reisebranche ist gedacht. Kuno hingegen hält es für „unwahrscheinlich“, daß die Installation an ihrem alten Ort noch einmal entsteht. Aber ein „Bilderstürmer“ will er auch nicht sein. Wenn die Künstler an ihn heranträten und neue Vorschläge unterbreiteten, müsse man das Anliegen „ernsthaft prüfen“. Irgendwie paßt die Leidensgeschichte des Mäusegangs zur Adventszeit: Man kann nur hoffen. Ulrich Clewing