Ein Blick ins Feuer

■ Alfredo Jaars „Europa“-Installation in Stuttgart

„Alle Feuer, die Glut der Seele, das reale und das künstliche Feuer, haben einen gemeinsamen Stammbaum ..., so wie wir übrigen Sterblichen, die unfruchtbare Ideen erzeugen. Jede Idee kommt aus der Geschichte. Das Leben selbst gibt nichts. Wir sind zusammengesetzt aus Erinnerungsfetzen, journalistischen Zitaten, geraubten Abstraktionen, Verzahnungen aus Kulturen und Zivilisationen, Epigraphen des Urbildes.“ Mit dieser Anrufung des Gedächtnisses beginnt ein Beitrag des katalanischen Schriftstellers Vicenc Altaió zum Thema „Europa oder die Problematik von Geschichte“, der als Katalogtext eine Installation von Alfredo Jaar im Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen begleitet.

Ein schwarz ausgekleideter Durchgang gehört zur Inszenierung des in den USA lebenden Künstlers. Er dient der Vorbereitung auf einen kahlen Raum, in dem aus sechs Transparentkästen Bilder mit loderndem Feuer erstrahlen. In angemessener Distanz zu den in einer Reihe vor einer Längswand aufgestellten Kästen genießt man die Wärme des Bildraums, das Verschmelzen von Rot und Gelb, und es bedarf einiger Überwindung, um die 30 schwarzgerahmten Spiegel in Augenschein zu nehmen, die an der Wand die Reihe der Transparentkästen in dichter Folge begleiten. Jeder von ihnen hat auf seiner Rückseite eine Farbfotografie von einem der Brennpunkte des Bosnienkrieges. Die Bilder, die in den kleinen Spiegeln immer nur bruchstückhaft reflektiert werden, vermischen sich mit den Spiegelungen des Betrachters und des umgebenden Raumes.

Jaar setzt sich in seiner Installation „Europa“, wie schon bei früheren Arbeiten, mit dem unreflektierten, nur über Medien transportierten Blick vom Zentrum auf die Peripherie auseinander. In der Festung Europa ist man damit konfrontiert, daß es an den Rändern brennt. Dem Ausstellungsbesucher wird der Widerspruch durch die Veränderung seines Standortes bewußt: das ästhetische Wohlbefinden am Bild vom lodernden Feuer aus der Distanz und die anschließende Umkehr der Empfindungen beim Abschreiten der Spiegelreihe aus nächster Nähe. Die kinematographische Fragmentierung der Kriegsbilder in Sequenzen von je fünf aufeinanderfolgenden Spiegelbildern verlangt zugleich ein teilnehmendes, analysierendes und synthetisierendes Sehen. Die unvermeidbare Vermischung von Kriegsbild und dem eigenen bruchstückhaften Spiegelbild macht die Wahrnehmung zur ethischen Entscheidung. Wie kann man ausweichen? Der Feuerzauber verliert seinen schönen Schein, er gibt den vergangenen und gespiegelten Momenten – einem Flüchtlingszug, dem Blick eines Kindes mit bandagiertem Kopf, der Abschiedsgeste zweier alter Frauen – ihre Aktualität zurück. Wahrnehmung und Interpretation sind für Alfredo Jaar eine Sache der Position oder mit Altaió: „Alles, was das Kollektiv schreibt und das Individuum nicht liest, schläft. Wenn die Geschichte nicht in das Museum mündet, dann stirbt sie.“ Eine solche Funktion schreibt auch Jaar der Kunst als Gedächtnis zu. Gabriele Hoffmann

Bis 15. 1. 1995, ifa-Galerie Stuttgart. Der Katalog kostet 18 DM.