100 Jahre Dreyfus-Affäre

Das antisemitische Urteil spaltete die Dritte Republik / Bis heute ist der Justizirrtum in der französischen Armee nicht verarbeitet  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Dreyfus? – Ach, der von der Affäre“, sagen die Franzosen, wenn sie heute einen ihrer zahlreichen Landsleute mit dem bekannten Familiennamen kennenlernen.

Exakt 100 Jahre nach seiner Verurteilung wegen Spionage für Deutschland steht der Name des jüdischen Offiziers immer noch für einen der ganz großen Justizirrtümer, für einen Wendepunkt in der französischen Geschichte und für einen bis heute nicht verarbeiteten Fehler der französischen Armee.

Alfred Dreyfus war 35 Jahre alt, patriotisch, erfolgreich, wohlhabend und Vater zweier Kinder, als seine Karriere 1894 ein abruptes Ende fand. Im Herbst jenes Jahres hatte eine Putzfrau, die im Dienst des Pariser Geheimdienstes stand, eine Aufstellung mit militärischen Geheimnissen über die französische Armee in den Räumen der Deutschen Botschaft gefunden. Das Dokument führte den Generalstab der Armee prompt auf die Fährte des einzigen jüdischen Offiziers in seinem Kreis, der außerdem aus dem damals zu Deutschland gehörigen Elsaß stammte. Das militärische Eilverfahren führte am 22. Dezember 1894 zu Dreyfus' Verurteilung zu lebenslänglicher Deportation auf die Teufelsinsel. Einziger Schuldbeweis war seine Schrift. Das Dossier, das zur Verurteilung führte, bekamen weder der Angeklagte noch sein Anwalt zu Gesicht.

Vor seiner Deportation auf die tropische Insel wurde Dreyfus im Innenhof der Pariser Ecole Militaire öffentlich degradiert. Bei der Zeremonie, zu der sich zahlreich antisemitisch gesonnenes Volk einfand, beteuerte er seine Unschuld und stieß Hochrufe auf die Republik aus. Über ein Jahrhundert nach dem Beginn der französischen Revolution hatte die Spaltung der Dritten Republik in „Dreyfusards“ und „Antidreyfusards“ – in Verteidiger republikanischer Werte und Anhänger der alten Ordnung – begonnen.

Wenige Monate nach der Deportation stieß ein neuer Chef des Geheimdienstes, Georges Picquart, auf Material, das ein Fehlurteil in der Dreyfus-Affäre nahelegte. Er fand heraus, daß nicht Dreyfus, sondern Major Charles Walsin Esterhazy, ebenfalls Mitglied des militärischen Generalstabs, für die Deutsche Botschaft schnüffelte. Doch statt den Prozeß wieder aufzurollen, wurde Picquart nach Tunesien strafversetzt. Zum Verfahren gegen Esterhazy kam es erst 1898. Trotz seiner nachweislichen Spionagetätigkeit endete es mit einem Freispruch. Der Deportierte Dreyfus war zu jenem Zeitpunkt bereits todkrank.

Die „Dreyfusards“ gaben nicht auf. Am 31. Januar 1898 erschien die berühmt gewordene Anklage des Schriftstellers Emile Zola unter der Überschrift „J'accuse“ auf der ersten Seite der Zeitung L'Aurore. Ihrem Autor brachte die Schrift eine Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis ein, der er sich durch Flucht nach England entzog. Kurz darauf gründete sich die „Menschenrechtsliga“, deren erste Aufgabe die Verteidigung Dreyfus' war und die fünf Jahrzehnte später Juden vor der Deporation nach Deutschland rettete. Die späte Begnadigung Dreyfus im Jahr 1899, seine militärische Rehabilitation im Jahr 1906 und die Überführung der Asche des Schriftstellers Zola in den Panthéon brachte dem republikanischen Lager neue politische Macht in Frankreich.

„Antidreyfusards“ gab es nicht nur in der französischen Armee. Ende des Jahrhunderts gründete der Schriftsteller Charles Maurras die „Action française“, eine antisemitische, katholisch-klerikale, antirepublikanische Organisation auf deren Grundlange zahlreiche Franzosen Jahrzehnte später zur Kollaboration mit den deutschen Faschisten fanden.

„Historisch“, sagte vor wenigen Wochen der französische Verteidigungsminister Francois Léotard, „läßt sich die Dreyfus-Affäre nicht von Auschwitz trennen.“ Späte Nachwehen der Affäre, die zu einer Schwächung der französischen Armee in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg führte, zeigten sich in diesem Frühjahr wieder, als der Chef des historischen Dienstes der Armee schrieb, heute gelte allgemein die „These von der Unschuld Dreyfus'“. Der Mann, ebenfalls ein Offizier, wurde entlassen. Offiziell eingestanden hat die französische Armee die Unschuld Dreyfus immer noch nicht.

Kein Platz und keine Straße trägt heute in Paris den Namen von Dreyfus. Lediglich ein Denkmal auf der linken Seine-Seite erinnert an die Affäre, die die Dritte Republik spaltete.

Den versteckten Antisemitismus in Frankreich kennen die meisten zeitgenössischen Namensträger. Ein betagter Dreyfus meint dazu: „Mich würde es nicht wundern, wenn es eines Tages zur Revision der Revision des Dreyfus-Urteils käme.“