Die nötige Blöße

Nicht fixieren, dieses Buch, es zerfällt sonst wie ein modriger Pilz! – Handkes Fin-de-siècle-Epos „Mein Jahr in der Niemandsbucht“  ■ Von Jörg Lau

Welch ein kokettes, schlaues, frommes, feines, grobes, dummes, lustiges Buch. Und was dies Buch nicht alles sein will, was nicht alles mindestens in ihm angelegt ist: Chronik, Menschliche Komödie, chiffrierte Autobiographie, Fantasy-Geschichte, ästhetischer Essay und gar „erzählendes Gebet“.

Gregor Keuschnig, Jurist und Schriftsteller, hat sich in eine Vorstadt der Metropole Paris zurückgezogen, in ein Haus inmitten einer waldigen Gegend, die er „Niemandsbucht“ tauft. Von seiner Frau und seinem Sohn verlassen, erzählt Keuschnig von seinem Jahr in selbstgewählter Abgeschiedenheit; er berichtet von den banalen Ereignissen dort, aber auch von seinen Freunden, die durch die Welt ziehen, durch Japan, Schottland, Alaska, Griechenland. Er berichtet auch von seiner Schreibkrise, die er als Krise des Erzählens versteht, von seiner Kindheit in Kärnten und von seinen „Verwandlungen“. Und von einem deutschen Bürgerkrieg, der eben erst – die Handlung spielt im Jahre 1997 – zu Ende gegangen ist. 1997 – es handelt sich also um einen im Fin-de-siècle angesiedelten Fantasy-Roman.

Die Kritik hat davon kein großes Aufhebens gemacht. (Die Zeit und die Neue Zürcher Zeitung etwa erwähnten die für die Konstruktion zentrale Bürgerkriegsfiktion mit keinem Wort.) Seltsam genug, denn dies ist einer von Handkes schönsten Einfällen, wenn auch seine Durchführung dürftig bleibt.

Mich hat an dem neuen Handke aber doch zuerst die Geschichte vom Sohn des Ich-Erzählers und Protagonisten Gregor Keuschnig – leicht als Handkes literarisches Alter ego zu erkennen, wie schon in „Die Stunde der wahren Empfindung“ – interessiert, die Geschichte des jungen Mannes namens Valentin. „Er scheint mir jemand zu sein“, schreibt Keuschnig über seinen Sohn, „– und mit ihm seine Generation? –, der weniger auf eine Bleibe aus ist als auf die und jene Schlupfwinkel, welche sich dann weder im Zentrum noch in den Außenbezirken befinden, sondern, fast eine Regel, irgendwo dazwischen.“

Mein erstes Handke-Buch war „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ gewesen, vom Deutschlehrer kurz vor den Ferien verteilt, die neue Leistungskurs-Lektüre, wie üblich per Sammelbestellung in der schlechtsortierten Kleinstadtbuchhandlung besorgt. Wir sollten „Neue Innerlichkeit“ durchnehmen, eine Strömung der eben erst verstreichenden siebziger Jahre, und dies sei im übrigen „möglicher Abiturstoff“. Nach den erst mürrisch, dann gierig vertilgten ersten Seiten war schnell klar, daß dieser neue Lehrstoff sich auch würde gegen die verwenden lassen, die uns daran Lektionen erteilen wollten. („Nennen Sie mindestens fünf Merkmale der Neuen Innerlichkeit!“) Konnte man so wie dieser Held einfach einen Schritt zur Seite treten und aus seinem bisherigen Leben hinaus in die plötzlich verwandelte Außenwelt spazieren? Seine Abenteuer bestanden, wie die anderer Handke-Helden, die ich bald außerhalb der Schule kennenlernte, in wenig mehr als kleinen Wahrnehmungsverschiebungen, profanen Erleuchtungen – was von dem „progressiven Lehrer“ (so sagte man doch wohl) pflichtschuldig als „problematische Haltung“ dargestellt wurde, als „Resignation“, als „Rückzug ins Private“, kurz: als „unpolitisch“. Aber solche Bannflüche waren damals schon nicht mehr sehr wirksam. Gegen die Handkeschen Helden der wahren Empfindung geschleudert, waren sie leicht als schaler Abwehrzauber eines politisch nur noch maskierten neuen Spießertums zu durchschauen. Keuschnigs Sohn ist wieder ein solcher Held. Valentin, der sich mit seinem Vater überworfen hat, mag Kazuo Ishiguro und Max Goldt. Auch Keuschnig/Handke scheint letzteren nicht zu verachten. Von fern hört man Onkel Max mit seinem Sinn für die Komik sperriger Germanismen durchklingen, wenn es von Valentin, dem DJ, heißt, er habe sein Reisegeld „vom Plattenauflegen in den verschiedenen Jugend-Nachtlokalen“, oder wenn Mountainbike-Fahrer mehrmals „Bergradreiter“ genannt werden. Wie dieser Valentin hier so durch Jugoslawien nach Griechenland reist und dabei herunterkommt, erinnert er nicht wenig an River Phoenix auf dem Weg durch Idaho. Er folgt einem eigenartigen Wahrnehmungsprogramm:

„Wenn Du von einem Gegenstand ein Nachbild erwartest“, sagt er seinem Vater einmal, „darfst du ihn keineswegs fixieren, du mußt, dabei aufmerksam, durch ihn durchschauen, erst damit wird sein Nachbild verläßlich und beständig, und seine Gestalt wird an solchem Nachleuchten oft eher zu Entdeckungen führen als an dem Ding selber!“

Keuschnig/Handke hätte man mehr von dieser Reserviertheit, von diesem Sinn für Schleichwege zum Glück gewünscht.

Es ist in dem Buch viel die Rede von den Schwierigkeiten der wahren Empfindung, von den prekären Versuchen, Erlösung im wahren Schauen, Hören, Tasten, in einer absoluten Gegenwärtigkeit, im Einverstandensein mit den Dingen zu finden. Da springt mancher buddhistisch anmutende Rat heraus: Ein guter Sucher, heißt es etwa, wirst du, „indem du beim Suchen etwas anderes im Sinn hast, das aber stark“.

Wann immer Keuschnig/Handke aber von seinen erfüllten Momenten umstandslos Mitteilung macht, scheinen alle frommen Vorbehalte verflogen. Der Hl. Franziskus mag mit den Tieren gesprochen haben. „Kunststück!“ wird sagen, wer sich durch die lange Pilzsucher-Passage dieses Buches gearbeitet hat.

Handkes Hl. Gregor spricht nämlich mit den Pflanzen: „Mein Freund“, nennt er den Steinpilz, diesen „Waldbodenkönig“, diesen „prunkenden Kaiser“. „Hätte ich je ein Bild davon zu geben, was ,Unberührtheit‘ ist, so würde ich hinzeigen auf die Unterseite des Huts eines Butterpilzfrischlings. Kommt und seht: Indem du jene schwammige Unterschicht entfernt hast, zeigt sich an dem nackten Butterpilz der Ausschnitt eines noch nie betretenen Himmelskörpers, leer und rein, zugleich geballt von Fruchtigkeit.“ Solche fette Feinschmecker-Prosa ist leider nicht die Ausnahme, und sie wird auch nicht durch den Hinweis verdaulicher, der ihr zugrundeliegende Pantheismus sei schon bei Eichendorff, Grillparzer und Stifter anzutreffen.

Im Gegenteil: Was den Handkeschen Rekurs auf Natur als Arena der realen Präsenz des Hohen Sinns, wenn nicht des Göttlichen selbst, so falsch, so kitschig macht, ist eben dieser Naturbegriff, der nicht mehr unserer sein kann. Daß Pilze neben Gott auch jede Menge Schwermetalle enthalten können, fällt dem zusehends entrückten Helden nicht ein.

Wer sich hier durcharbeitet, wird oft genug Lust bekommen, die Sache bleiben zu lassen. Die wenigsten werden damit Ernst machen. Denn dieses nach Anlage, Ausmaß und Anspruch monströse Buch ist streckenweise von einem ganz erstaunlichen Humor gezeichnet: Peter Handke macht wilde Witze über seine eigene Arbeit der letzten Jahre, vor allem über die Reihe der „Versuche“: Einmal erinnert Keuschnigs Freund, der Architekt, ihn daran, daß er einen „Versuch über die Bedürfnisanstalten“ schreiben wollte. Ein anderes Mal parodiert Keuschnig die Rezensenten von der New York Times über die Pekinger Volkszeitung bis zum Osservatore Romano. Dann macht der Verleger Zwischenstation; er ist „auf dem Weg von dem Begräbnis

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eines seiner Autoren, dem zwölften im laufenden Jahr“. Auch Keuschnig/Handkes schärfster Kritiker, der „schlaueste und zugleich der beschränkteste, der seine Begrenztheit für Einfachheit ausgab“, kommt vor. Von seinen drei Auftritten ist aber mindestens einer zuviel. Handke hat am Ende eine Rachephantasie einfließen lassen, die auf eine tiefe Verletztheit schließen läßt. Wie ihm dabei die semantische Kontrolle entgleitet, ist allerdings auch damit nicht zu entschuldigen. Diese Phantasie kreist darum, daß seine leicht durchschaubare Kritiker-Karikatur in der Wirkungslosigkeit untergeht, „[daß] mein einstiger Feind, weiter aktiv bei seinem Bücher- Vernehmen und -Ausschnüffeln, für seine Wortspektakel keine Gaffer mehr fand und erstmals, außerhalb seines Ghettos, zu Gängen verurteilt war in die von ihm verabscheute Natur“. [Hervorhebung J.L.] „Außerhalb seines Ghettos“ – seltsame Prägung, wenn es um einen Gegner geht, der bekanntlich aus einem wirklichen, dem Warschauer Ghetto, entkommen ist.

Man muß dieses Buch auf jene zarte Art nehmen, die Valentin empfiehlt. Man darf es „keinesfalls fixieren“. Wenn man ihm zu forsch und insistierend zu Leibe rückt, zerfällt es einem zwischen den Händen. „Seine andere Vorgangsweise war es, sich von einer Sache überhaupt zwischendurch abzuwenden, ausdrücklich sich in ein Drittes zu vertiefen, um, wenn er sich dann zu ihr zurückwendete, wie er sagte, ,sie dabei zu erwischen, wie sie war‘.“ So sollte man mit diesem Buch verfahren, das einen immer wieder in andere, direktere, andächtigere Haltungen hineinzwingen möchte, denn es ist zu weiten Teilen „die Geschichte oder der Forschungsbericht von dem zwar Vorhandenen, doch Unantastbaren in mir, meine Religion, oder, wie das Ergebnis dann, so oder so, von Dritten genannt worden ist, ,ein erzählendes Gebet‘.“

Das ist nun gerade nichts Neues, sondern die älteste aller Autoren- Machtphantasien: daß die Leser das Buch mit einem „Amen“ zur Seite legen. Aber selbst Gebete lassen sich nach gut und schlecht sortieren, und einige von Handkes frommsten Stellen sind leider nichts weiter als Erbauungskitsch des gleichen Schlages wie in den Apothekenkalendern, die jetzt zum Jahreswechsel verteilt werden: „,Ein Kind‘, dachte ich, ,setzt die Freude fort in der Welt, und was ist sonst die Welt?‘“

Und es lohnt sich doch, all diesen Ramsch beiseite zu räumen? Es lohnt sich. Was dieses Buch beglaubigt, ist nicht die Selbstreflexion des Erzählers in den zahlreichen Exkursen über die zeitgenössischen Schwierigkeiten des Erzählens, die, nebenbei bemerkt, nicht wenig dazu beitragen, daß dies Buch zu einer solchen 1.000- Seiten-Schwarte angedickt werden konnte. Sie sind mehr für die germanistischen Proseminare, Abt. Literaturtheorie: „Manchmal kommt mir vor, das Erzählen habe sich verbraucht, oder es sei etwas faul daran, und nicht nur an dem meinen.“ Der Text liefert selber die Erklärung dafür, daß dieses Buch den Generalverdacht gegen das Erzählen, der es antreibt, immer aufs neue zu widerlegen vermag: „Und daß das vorgefaßte Registrieren, Berichten, Chronikherstellen, Draußenbleiben sich zu einer Erzählung verdreht hat, und eine in der Ich-Form, das kam aus der Erkenntnis, [...] daß ich, der Schreiber, mit meinem Buch scheitern müßte, würde ich mich nicht wechselweise selber hineinspielen, um meiner Sache die nötige Blöße zu geben, ähnlich einem Tier, welches während eines Zweikampfes für Phasen ungeschützt seine Kehle herzeigt (und schon je tat es mir, dem Leser, gut, wenn in einem Buch solch ein Ich sich zu Wort meldete und die Sache beglaubigte, auch in sie eingriff).“

Wo Handke sich so selber hineinspielt und sich die nötige Blöße gibt, wird der Text wie von selber elegant und leicht, selbst bei den schwersten Stoffen. Wie Anziehung und Entzweiung zwischen Keuschnig und „der Katalanin“ beschrieben sind, das ist ganz unvergleichlich in seiner hellen Verzweiflung, in dem Wissen davon, daß eine Verwandlung etwas äußerst Schmerzhaftes sein kann.

Auch die Entfremdung von dem Sohn beeindruckt durch die Mitleidlosigkeit der Darstellung. Hier ist Handke auf der Höhe, ein Meister der humanen Resignation. Und dann immer wieder Stellen wie diese über einen der Freunde, „den Leser“: „Doch schon damals war er davon durchdrungen, der Weltuntergang stehe bevor, und er werde aus Deutschland kommen; dessen Landschaften er dabei allesamt – er zeigte dabei auf seine Brust – mit sich herumtrug. Bei den Gewaltakten der Baader-Terroristen hieß es: ,Das ist jetzt das Ende!‘, und dann noch einmal bei deren gemeinsamem Selbstmord. Wir saßen damals an jenem Herbstabend auf einem stillen gutbeleuchteten Pariser Platz, und er starrte in eine unter seinem Blick sich zwischen den Bäumen verdichtende und uns auf die Leiber rückende Finsternis, ohne einen Anflug der Genugtuung, in einem kindlichen oder vorzeitigen Entsetzen.“

Ja, so war es. Und wir brauchen noch viel mehr davon, mehr von den Herbstabenden, mehr von dem Entsetzen, der Finsternis. Mehr auch von diesem eigenartigen Bürgerkrieg, den Handke sich nicht ausgedacht hat; er läuft ja noch im Fernsehen, man mußte ihn nur übertragen: „Dieser Krieg, jäh entbrannt, in sämtlichen Ländern, zu Frühjahrsbeginn 1997, ist inzwischen längst vorüber, und es ist, als stehe Deutschland zum ersten Mal an so etwas wie einem Anfang, gespensterlos, gesundet, wenngleich schwachbeinig und verdattert, ,hoffentlich länger als nur vorläufig‘ (der Leser); als trete nun seine ganz andere Geschichte in Kraft.“ Mehr auch von den Raum-Träumen, mit denen hier die Vorstadtwelt in ein Zwischenreich, eine Welt der Improvisation voller unfertiger Gestalten, verwandelt wird. Mit dem Rückzug des Helden in die Pariser Vorstadt erinnert dieses Fin-de-siècle-Buch an das Buch der letzten Jahrhundertwende – auch Floressas des Esseintes, der Protagonist von Joris- Karl Huysmans „Gegen den Strich“, Vorbild aller décadents der Zeit, hatte eine Niemandsbucht außerhalb der Metropole aufgesucht, allerdings nicht, um Pilze zu sammeln, sondern um sich ungestört einer morbiden Scheinwelt zu ergeben. Am Ende floh er entnervt zurück in die Stadt. Gregor Keuschnig, der Anti-décadent unseres Fin de siècle, bleibt in der Provinz. Zum Schluß feiert er mit seinen Freunden in einer Landschänke ein Wiedersehensfest.

Aber was wird mit den Städten?

Peter Handke: „Mein Jahr in der Niemandsbucht“. Suhrkamp Verlag, 1.097 Seiten, geb., 78 DM.