Das Märchen vom sozialen Schuh

Nike wirbt damit, daß seine Turnschuhe von anständig bezahlten Menschen hergestellt werden / Die Realität aber trifft das nicht  ■ Von Hugh Williamson

Wer übers Großstadtpflaster joggt, will dies mit gutem Gewissen tun und nicht ständig an die ausgebeuteten Arbeiter in der südlichen Hemisphäre denken. Das hat die Turnschuhfirma Nike erkannt und sich deshalb werbewirksam einen „Verhaltenskodex“ auferlegt. Auch die Manager von Levi's Jeans, Reebok-Sportschuhen und der Postversandkette Sears unterschrieben in den letzten Jahren Papiere, in denen von angemessenen Löhnen und Arbeitsbedingungen sowie Umweltschutz die Rede ist. Seit Anfang der 90er Jahre versuchen Firmen auf diese Weise, auch die sozialen Bedürfnisse ihrer Kunden zu befriedigen.

„Solche Kodices können durchaus nützlich sein, weil sie zeigen, daß übernationale Firmen endlich – zumindest auf dem Papier – die Verantwortung für ihre Zulieferfirmen und Vertragspartner übernehmen“, sagt Ineke Zeldenrust von SOMO, dem Zentrum für Forschung über Multinationale Konzerne in Amsterdam. „Andererseits benutzen die Firmen sie als Bestandteil ihrer Public Relations, um sich gegenüber Konkurrenten zu profilieren. Wenn dieser Vorteil auf dem Markt schwindet, besteht die Gefahr, daß damit auch die Kodices verschwinden“, ergänzt sie.

Levi's verabschiedete seinen Kodex 1992. Kurz zuvor war herausgekommen, daß ein Zulieferer auf der unter US-Recht stehenden Pazifikinsel Saipan chinesische Zwangsarbeiter beschäftigte. Die Einleitung des Kodex hält fest: „Da wir unsere Lieferquellen breiter auf andere Kulturen und Länder ausdehnen, müssen wir besonders auf die Auswahl der Geschäftspartner und Länder achten, deren Praktiken mit unseren Werten vereinbar sind. Sonst könnten unsere Beschaffungspraktiken das Image unserer Marken beeinträchtigen und unseren wirtschaftlichen Erfolg gefährden.“

Auch Nike verwendet das Argument der „gemeinsamen Werte“ und konstatiert, das Geschäft der Firma stütze sich auf „Vertrauen, Teamwork, ehrliche und gegenseitige Achtung. Wir erwarten von unseren Geschäftspartnern, daß sie nach den gleichen Grundsätzen vorgehen.“ Die Realität sieht freilich anders aus: Es gibt zahlreiche Belege dafür, daß Nikes Lieferanten gegen die Bedingungen des Kodex verstoßen haben, ohne daß der Konzern darauf reagiert hat.

Nike selbst produziert nur sehr wenige Schuhe. Die Firma ist spezialisiert auf Entwurf und Marketing. Die fertigen Schuhe kauft sie von überwiegend asiatischen Vertragsfirmen. 99 Prozent der jährlich abgesetzten 90 Millionen Schuhe werden von etwa 75.000 Menschen in der „dritten Welt“ hergestellt. Bei Nike selbst stehen nur 10.000 Angestellte auf der Lohnliste; fast alle arbeiten in den USA. In Asien hat Nike eine rücksichtslose Politik der Kostensenkung verfolgt. Nachdem die Firma ihre Produkte zunächst vor allem aus Europa, Nordamerika und Japan bezog, verlagerte sie Anfang der achtziger Jahre der Hauptteil der Herstellung nach Südkorea und Taiwan, wo die Löhne von einem Dollar pro Stunde nur ein Zehntel des US-Niveaus erreichten. „Dann, vor etwa fünf Jahren, als die Löhne und der gewerkschaftliche Organisationsgrad sowohl in Korea als auch in Taiwan stiegen, vergab Nike fast die Hälfte der Produktion nach Indonesien, China und Thailand – und hinterließ häufig Arbeitslosigkeit“, konstatiert SOMO-Mitarbeiterin Marijke Smit. Nike ermutigte seine früheren Zulieferer zur Umsiedlung, die Koreaner nach Indonesien und die Taiwanesen nach China (über Hongkong) und Thailand. Näher untersucht sind die Verhältnisse in Indonesien. Einer Studie des indonesischen Büros der US-Gewerkschaft AFL-CIO von 1991/92 und verschiedener regierungsunabhängiger Organisationen zufolge bezieht Nike Schuhe von mindestens sechs Vertragsfirmen – sämtlich von Koreanern geleitet oder in koreanischem Eigentum. Mehr als 24.000 Menschen, zu 85 Prozent Frauen, schustern dort. Nach Nikes Kodex müßten die Vertragsfirmen alle „einschlägigen örtlichen Bestimmungen hinsichtlich des Mindestlohns, der Mehrarbeit, der Beschäftigung von Kindern“ und einer Reihe weiterer Punkte einhalten. Vier der sechs Fabriken aber bezahlten zum Untersuchungszeitpunkt nicht einmal den täglichen Mindestlohn von umgerechnet 2,10 Mark.

Sadisah, die bei Nike beschäftigt war, wurde Ende 1992 entlassen. Sie hatte versucht, ihre Kolleginnen zu organisieren. „Unsere Firma zahlte keine Mindestlöhne und hielt auch andere Bestimmungen nicht ein, wie zum Beispiel das Verbot von Abzügen für Essen und einen zweitägigen Menstruationsurlaub für Frauen“, berichtete sie auf einem von SOMO organisierten Seminar.

Mindestens drei der Vertragsfirmen stellten auch Kinder an; zum Beispiel habe ein vierzehnjähriges Mädchen fünfzig Stunden in der Woche Schuhe genäht, erzählt Sadisah. Erzwungene Überstunden, nach indonesischem Recht verboten, seien üblich gewesen, ebenso wie andere Verstöße hinsichtlich der Arbeitszeiten und Feiertage, Mutterschaftsurlaub und Sicherheit. „Als wir mit unseren Untersuchungen begannen, glaubten wir – vielleicht naiv –, Nike behandele die eigenen Arbeiter besser als die örtlichen Vertragsfirmen“, sagt Jeff Ballinger, der damals für die AFL-CIO in Jakarta arbeitete. „In Wirklichkeit verschlechterte das Erscheinen von Nike und anderen übernationalen Schuhfirmen die Situation, weil sie den Mindestlohn in den höchsten gezahlten Lohn verwandelten.“

Nike aber behauptet, alle Vertragsfirmen müßten den Kodex unterzeichnen. Intern werde dessen Einhaltung überwacht; bisher sei es zu keinerlei Verstößen gekommen. Die Firma nimmt außerdem für sich in Anspruch, sie spiele in Indonesien und anderen Ländern eine paternalistische, entwicklungsfördernde Rolle – schließlich verdienten die Fabrikarbeiter bis zu fünfmal mehr als die Bauern. Nicht erwähnt bei dieser Rechnung bleibt, daß die Landbevölkerung einen großen Teil ihres Lohnes in Naturalien bezieht.

Auch nach der Konfrontation des Konzerns mit den Untersuchungsergebnissen hat sich offenbar wenig geändert. US-Gewerkschafter Ballinger besitzt Lohnzettel vom März 1994, wonach Arbeiter von Nike-Zulieferern weiterhin nicht die Mindestlöhne erhielten. Die Schuhfirma kontert den Vorwurf mit dem Hinweis, einige Arbeiter seien noch in der „Anlernphase“. Aber Ballinger besteht darauf, daß es für den Mindestlohn keine Ausnahmen gibt.

Im letzten Dezember haben Nike-Arbeiter und Unterstützergruppen eine internationale Petition in Umlauf gebracht unter der Parole „Wer Nike-Schuhe trägt, unterdrückt indonesische Arbeiter“. Die Schikanen gegen Streikende folgten auf dem Fuße. Immer mehr gibt Nike unterdessen für seine Werbung aus. Mit einer Rekordsumme von schätzungsweise 250 Millionen Dollar versucht der Konzern, seinen Joggingschuhen das Image eines sozialen Produkts anzuheften.

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning