Déjà-vu – Zusteigende Zivilisten in der U-Bahn Von Manfred Riepe

Schwarzfahren kostet sechzig Mark. Pah! Denkt mein Freud Paul. Meine letzte Pauschalreise war so teuer, daß ich sparen muß. Ich fahre so lange schwarz, bis ich sechzig Mark auf dem virtuellen Konto habe, und dann ist Ruhe. Gesagt, getan. Ab sechzig Mark eingespartem Beförderungsgeld fühlte Paul eine tiefe innere Ruhe in sich aufsteigen, die er das letzte Mal als Kind empfunden hatte, als es ihm gelungen war, den Heiße- Wurst-Automaten in der Aula zu knacken. Gelassen registriert Paul den zusteigenden Zivilisten, der sich angelegentlich nach seinem Fahrschein erkundigte. Verlegen und fast ein wenig hilflos fragte der Mann, ob Paul seinen Fahrschein nicht bloß verlegt habe. Irrtümer lassen sich ja klären. Na, ja. Bitter wurde es erst, als Paul noch zweimal erwischt wurde. Am selben Tag. Zerknirscht tat er, was er nie tun wollte. Er löste eine Monatskarte und bestieg die U-Bahn mit der Einsicht, daß die Wirklichkeit nicht immer auf einfache Konzepte reduzierbar ist. Die Sitzpolster waren aufgeschlitzt, und jemand hatte mit Edding „Fuck“ an die Scheibe geschrieben.

„Die Fahrkarten bitte“, sagte der Mann, der so aussah, als ob er auch froh sei, daß Eintracht Frankfurt nun ohne Yoboah spielt. Kein Problem, denkt Paul, greift zur Wertmarke und hält sie dem Kerl vor den Sehschlitz. „Kostet sechzig Mark“, sagt der Typ ungerührt. „Wollen mich wohl verarschen“, sagt Paul, da standen schon die übrigen Kontrollettis um ihn und argumentierten physisch.

Paul schaute auf seine Monatskarte, für die er keine zehn Minuten vorher neunzig Mark durch den Eingabeschlitz geschoben hatte. Statt „1. 12. 1994“ hatte die nette Frau hinter dem Schalter, die gleichzeitig mit ihrer Mutter telefonierte, „1. 11. 1994“ auf die Wertmarke gedruckt: Wüstenrot-Tag. Diese wahrheitsgemäße Wiedergabe eines erheblichen Sachverhaltes, mit dem Brustton der Überzeugung verkündet, beeindruckte die Zivilkontrolleure nicht. Der Hund wurde unruhig.

Hundertachtzig Mark für drei Freifahrten, addierte Paul im stillen, plus neunzig für die ungültige Monatskarte und jetzt noch einmal sechzig macht zusammen dreihundertzehn Mark. Dafür hätte ich den ganzen Tag Taxi fahren können. „Wo wollen Sie aussteigen?“ fragt ungerührt der Typ, der die Quittung ausfüllt. „Zurück zum FVV-Schalter“, knurrt Paul. „Rück- und Rundfahrten sind unzulässig“, sagt der Typ scharf. Sein Hund fängt an zu knurren. „Scheiße“, ruft Paul. „Werden Sie nicht frech“, sagt der Kontrolleur. „Wir können auch anders. Ganz ruhig, Hasso.“

Mißverständnisse, denkt Paul, müssen sich doch klären lassen. Es ist jetzt Hauptverkehrszeit. Der Tarif für die Fahrt zum FVV- Schalter beträgt Zweimarkachtzig. Zu spät registriert Paul die Leuchtschrift: „Nur abgezählt zahlen“, da hat der blaue Raubautomat schon mit metallischem Rülpsen das Fünfmarkstück einverleibt. Ein gültiger Fahrausweis fand sich zu Pauls Überraschung im Ausgabeschlitz, in den einer hineingespuckt hatte. Alles in allem zusammen schon dreihundertfünfzehn Mark. „Mittwoch nachmittag geschlossen“, ist auf dem Schild zu lesen, das am heruntergelassenen Rolladen des Schalters angebracht ist. Irgendwie hatte Paul den Eindruck, daß das alles schon einmal genau so geschehen ist.