Stille Nacht, heilige Nacht ...

Der Frieden ist für die Palästinenser auch an Weihnachten nicht sichtbar / Festlichkeiten in Bethlehem unter schweren Sicherheitsvorkehrungen / Stadtrat sorgt für Festtagsschmuck  ■ Aus Betlehem Khalil Abied

Alle Wege führen nach Bethlehem – und alle sind sie durch israelische Straßensperren blockiert. Die Vorfreude der dem Geburtsort Jesu zuströmenden Gläubigen wird an diesem Weihnachtstag erheblich geschmälert. Vor den Absperrungen bilden sich Autoschlangen – die Warterei wird zur Qual. Die Stadt selbst macht weniger den Eindruck eines Friedensortes denn einer Kaserne. Überall israelische Patroullien, Absperrungen und Wachen auf den Häuserdächern. „Vater im Himmel, laß dieses Jahr das letzte sein, in dem wir den Geburtstag Christi in solch einer Lage feiern“, bittet der 40jährige Kaufmann Said flehentlich. Denselben Wunsch äußern fast alle Palästinenser – Christen wie Muslime – an diesem Tag in Bethlehem. Die Freude am Fest ist für sie mit der tiefen Enttäuschung gepaart, auch in diesem Jahr Weihnachten noch nicht in Freiheit und ohne die israelischen Besatzer feiern zu können.

Laut Osloer Grundsatzabkommen, das im September 1993 von der PLO und Israel unterzeichnet wurde, hätten sich die israelischen Militärs schon vor ein paar Monaten aus den Städten der Westbank zurückziehen müssen. „Aber die Israelis haben die im Abkommen vereinbarten Termine nicht respektiert, und so müssen wir auch dieses Weihnachtsfest wieder unter israelischer Kontrolle begehen“, empört sich Samir, der in einem Andenkenladen nahe der Geburtskirche arbeitet.

„Bist du zufrieden mit deiner Arbeit in dieser heiligen Nacht?“ frage ich eine wachhabende israelische Soldatin, die ihren Namen nicht nennen will. Sie antwortet mir mit einer Gegenfrage: „Glaubst du, ich mache das hier zum Spaß?“ Ihrer Meinung nach besteht ihre Aufgabe und die ihrer Kollegen darin, die Leute vor terroristischen Anschlägen zu schützen. Doch hat sich zu diesem Weihnachtsfest auch einiges verändert. Erstmals können die Palästinenser das Fest unter ihrer Nationalflagge begehen. Die Fahnen samt Bildern von PLO-Chef Jassir Arafat prangen allerorts. Der Stadtrat von Bethlehem hat sich auf die Feierlichkeiten sorgsam vorbereitet und dabei die Beschränkungen durch die Besatzungsmacht einkalkuliert. Vor einem Jahr schenkte die niederländische Regierung den Palästinensern in Bethlehem einen riesigen Weihnachtsbaum. Doch die israelischen Behörden verhinderten, daß der Baum durch den Zoll und an seinen Bestimmungsort gelangte. „Diesmal haben wir den Baum fürs Fest gleich selbst gestellt“, erzählt Hanna Nasr, stellvertretender Bürgermeister von Betlehem. Durch das Fenster seines Büros deutet er auf einen hohen, mageren Weihnachtsbaum vor dem Rathaus, der nicht gerade von Lametta und anderem Gezierde überquillt. „Nächstes Jahr stellen wir einen riesigen und ganz prächtigen Baum dorthin!“

Die Beteiligung an der traditionellen Weihnachtsprozession am nachmittag ist groß: 10.000 Menschen empfangen den aus Jerusalem kommenden palästinensischen Patriarchen Michel Sabbah und ziehen zur Geburtskirche.

Gneral Gadi Zohar, Leiter der Zivilverwaltung der israelischen Besatzungsmacht in der Westbank, ist einer der Ehrengäste bei der Mitternachtsmesse in der Geburtskirche. Für ihn sind die vielen Klagen der Palästinenser ganz natürlich: „Das Klagen der Menschen ist so ihre Natur. Aber wir machen nur unsere Arbeit, und das heißt Sicherheit zu bewahren.“ Auf meine Frage, ob er voraussieht, daß es das letzte Weihnachten ist, das die Palästinenser unter Kontrolle seiner Soldaten feiern, antwortet er eher skeptisch. „Das kann sein.“

Wenige Minuten vor Mitternacht wimmelt der Platz vor der Geburtskirche von Menschen. Der nachtschwarze Himmel wird durch Feuerwerk erleuchtet. Diejenigen, die nicht mehr in die Kirche hineingelangt sind, verfolgen den Weihnachtsgottesdienst draußen auf einem Bildschirm. Eine Gruppe europäischer Punks öffnet überschäumend eine Flasche Sekt. Die Flasche zieht von Mund zu Mund; die Mädchen und Jungen umarmen und küssen sich. „Das verletzt unsere Tradition und den Islam“, kommentiert der Arbeiter Mohamed. Aber warum nimmt er als Muslim überhaupt an diesem christlichen Fest teil? „Einmal steht im Koran geschrieben, daß Jesus der Gesandte Gottes ist, und die Propheten verehren wir. So ist es auch unser Fest, und ich feiere es zusammen mit meinem christlichen Bruder“, erklärt er. „Gemeinsam haben wir schlechte Zeiten erlebt, und gemeinsam haben wir nur einen Wunsch: das nächste Weihnachten in Freiheit zu feiern.“