Ins Herz der.

Ein Kapitel aus dem verbotenen Roman „The Rape of Sita“  ■ Von
Lindsey Collen

Das letzte Angenehme oder auch nur Normale an diesem Tag war, soweit sie sich erinnern konnte, das Gespräch mit einer Frau. Einfach nur ein Gespräch. Sie redete mit einer Frau, die ihr erzählte, daß sie als Hausmädchen arbeitet. Sie waren sich an der Bushaltestelle begegnet und hatten zu reden angefangen. Die Frau sagte: „Aus Mauritius? Lieber frei, wie ihr.“ In Kreol sagte sie das. Und sie fragte nach den Löhnen in Mauritius, die viel niedriger waren als in Réunion, aber, das sagte sie auch, es gab überhaupt gar keine Arbeit in Réunion, wozu sollte man da also Löhne vergleichen. Und sie wiederholte: „Dann lieber frei, wie ihr.“ Sita und sie kamen sich sehr nahe in den zehn Minuten, die sie miteinander sprachen. Wie nur Frauen es können.

Aus irgendeinem Grund war Sita dieses Ereignis sehr deutlich im Gedächtnis geblieben. Aber dann hatte an jenem Tag, 1987 in Réunion, als sie mit dem Bus von Senzil nach Sendeni fuhr, sich ihr das Groteske immer mehr aufgedrängt. Es gibt kein anderes Wort dafür. Grotesk. Ich habe dieses Wort schon früher benutzt, und ich muß es wieder benutzen. Das war, was sie fühlte.

Sie und Dharma waren für 48 Stunden in Réunion. Dharma hielt vor jungen Leuten der Unabhängigkeitsbewegung ein paar Reden, und während er in der Uni war, wollte sie mit dem Bus nach Sendeni fahren, um dort zwei Leute zu treffen. Obwohl das Treffen mit den beiden Männern, die irgendwie mit Vorschulerziehung zu tun hatten, erst um halb zwei war, mußte sie früh losfahren, weil später kein Bus mehr ging. In jedem Fall aber, so hatte sie gedacht, wäre es ganz interessant, einen halben Tag in Sendeni zu verbringen. Schließlich hatte sie nichts gegen den Ort. Soweit sie wußte. Also war sie ungefähr um halb neun auf dem Weg nach Sendeni.

Und auf dieser Fahrt fing sie an, verrückt zu werden. Die Fahrt war wie eine Reise in den Wahnsinn. Into the heart of. Es fing damit an, daß die Menschen ihr vollkommen surreal erschienen.

Sie sah einen Mann ohne Augenbrauen. Seine Stirn war weit vorgewölbt. Sie sah einen anderen, der hatte einen Klumpfuß. Zwei Klumpfüße. Und dann einen mit einem Klumpfuß. Sie sah eine ausgemergelte Schwangere, gebeugt von der Last, die sie nur unwillig trug. Sie sah ein Kind mit leeren Augen. Das da stand und dem es aus Nase oder Mund tropfte. Arbeitslose Jugendliche starrten vor sich hin. Alone and palely. Junge Mädchen, aufgetakelt. Wie für die Bühne. Ein Make-up, das Armut und Ausdruckslosigkeit verbarg. Abgerissene Bauern schlurften mühsam Richtung Stadt, x-beinig.

Bei allen sah sie den gleichen Ausdruck. Den gleichen Zug. Wie von einem guten Künstler mit einem Strich charakterisiert: Unterwerfung. Mit einem Wort. Auf allen Gesichtern verdrängte Wut. Verdrängt bis wann? Unterwerfung und schleichende Wut, eingesperrt im Körperinneren. Selbst am frühen Morgen wacht man damit schon auf, dachte sie. Und wieder ein Tag der Kolonisierung. Das Wort ging ihr wie ein Karussell im Kopf herum. Kolonisiert.

Auf dieser Fahrt fühlte sie sich selbst immer stärker kolonisiert. Eine Reise ins Herz der Unterdrückung. Sie fühlte ihre Augenbrauen schmelzen und sich auflösen. Sie strich sich über die Stirn. Sie fühlte ihre Füße klumpen. Eine schwere, ungeliebte Schwangerschaft machte sich in ihrem unwilligen Bauch breit. Sie starrte ins Leere und kontrollierte schnell, ob auch bei ihr Speichel oder Rotz tropften. In panischem Schreck durchfuhr sie der Gedanke, daß sie womöglich vergessen hatte, sich zu schminken. Vielleicht waren Farbe und Puder nicht dick genug für den Widerstand, von dem sie fühlte, daß er hier auch ihr abverlangt werden würde.

Sie war sofort wie sie. Wie die Passagiere des bis individyel, des privaten Busses mit seinem idiotischen Fahrplan; gedemütigt wird man hier, dachte sie, schon auf der Fahrt. Selbst auf dem Weg zwischen zwei Orten, sogar dann noch, kriegen sie einen. Busse ohne richtige Fahrpläne, zu den wenigen, profitablen Fahrtzeiten völlig überfüllt.

Vorbei am Zentrum für Hundedressur. Wo Hunde für die Reichen dressiert wurden. Um Diebe auf Abstand zu halten. Um Furcht einzuflößen. Den Hunden oder den Menschen? Auf Biß dressiert? Auf tödlichen Biß? Wer weiß. Menschen auf Abstand halten. Vorbei am Militärgelände. Mauern. Dicke Mauern. Stacheldrahtzäune. Hohe Zäune. Die Geheimhaltung selbst überall bestens sichtbar. Vorbei an schweren Wagen. Glänzend, gleichgültig. Schnell. Mit denen man töten konnte.

Der Bus fuhr unangenehm schnell. Die Hälfte der Straße war für den Verkehr gesperrt. Über Nacht hatte es Steinschlag von den Klippen gegeben. Riesige Brocken blockierten die Autobahn noch immer. Nach der Katastrophe. Jeder Tag hier ist Katastrophe. Die Autos fuhren in beide Richtungen nur auf den Überholspuren, angeblich reserviert für den Verkehr, der aus Sendeni hinausführte. Die Überholspuren führten über dem Meer abgerungenes Land. Im Vorbeifahren dachte sie: nicht im Element. Aus unserem Element vertrieben. Und die Berge bedrohlich und bereit, die Straße jederzeit wieder zu attackieren. Brocken wie die Pest, die über die an nichts Böses denkenden Menschen der Insel herfielen. Es schauderte sie.

Während sie der Bus immer weiter Richtung Sendeni trug, näherte sie sich einer Situation, die sie kannte, aber von der sie nichts wußte. Die Situation der. Etwas, durch das sie hindurchgegangen war, dann verloren hatte, und von dem sie nicht wußte, daß es in ihrer Erinnerung bereitlag. Etwas, das sie getan hatte, woran sie sich aber nicht erinnerte. War es etwas Schreckliches?

Sie wußte es absolut nicht.

Genau das verband sie mit all den anderen Menschen im Bus. Als ob auch sie schreckliche Erinnerungen hatten, die sie nicht behalten konnten. An Unterwerfung, Demütigung, Niederlage. Als ob auch sie sich an eine Wut erinnern könnten, die viel zu rissig war, als daß man sie in der Erinnerung, im Kopf behalten konnte.

Unerbittlich fuhr sie auf den Ort des Verbrechens zu, das sie vergessen hatte. Alarmsignale zerrissen ihr Gehirn. Ihr Verstand kam nicht mehr mit. Also wurde sie verrückt. Aber, verrückt oder nicht, die Erinnerung, die sie von diesem Tag im Jahre 1987 hat, der immerhin schon einige Zeit zurückliegt, ist eine der deutlichsten überhaupt. Sie sieht alles genau vor sich. Als ob es gestern gewesen wäre. Nicht bildlich, sondern buchstäblich. Wie ein ungeschnittener Film.

Der Schaffner sammelte das Fahrgeld ein. Und dann tat er noch etwas. Er ging im Mittelgang nach vorne und legte eine Videokassette ein. Der Bildschirm des Videogeräts war knapp über dem Fahrersitz, hinter dem Fahrer, zielte auf die Fahrgäste wie eine Knarre, die man auf einen gefährlichen Feind richtet, so, daß alle gemeint sind. Wo auch alle Fahrgäste den Bildschirm meinen mußten. Keiner an ihm vorbeisehen konnte. Keiner sah sich wirklich den Film an.

Nur Bilder und Töne. „Sind wir beleidigt? Oder ist uns schon alles egal? Was machen wir mit unseren Augen und Ohren? Gehören sie noch uns? Das ist mir nicht ganz klar. Aber da sitzen wir, vor einem Videogerät. Und sehen alles. Und gucken gar nicht wirklich hin.“

Unterwerfung. Das ist es. Wut, die sich irgendwo nach innen verliert.

Und dann stellte sich heraus, daß es sich um einen pornographischen Film handelte. Auch da reagierte keiner. Daran gewöhnt. „Direkt vor uns.“ Sogar in einem öffentlichen Verkehrsmittel wird man noch gedemütigt. Beleidigt. Und wieder kam das Wort: kolonisiert. Als sie später den Leuten in Dharmas Seminar von dem Pornofilm erzählte, nickten sie bloß, ja, ja. Sie wußten, daß man in Bussen Pornofilme zeigte. Hatten sie selbst schon erlebt. Sie fanden es nur grotesk. Und versuchten zu zeigen, daß sie damit nichts weiter zu tun hatten.

Beschweren sich die Leute denn nicht, fragte sie. Sie denkt zurück und versucht, den Film zu rekonstruieren, den sie sah. Dieser Film, den sich an diesem Tag im Bus alle ansahen beziehungsweise nicht ansahen, war wahrscheinlich eine Art Pornofilm zum Flugzeugstart, ein Porno zwar, aber naja. Damals allerdings hatte sie sich angegriffen gefühlt. Alle anderen offenbar auch. „Wir werden in diesen Bus gepfercht“, dachte sie fast laut. „Und man zwingt uns, einen Pornofilm zu sehen.“ Das war wie Folter. Eine Art Vergewaltigung. Eine Form von Gefangenschaft. Sie fühlte mehr und mehr, daß sie weglaufen wollte. Panik stieg in ihr auf.

Aber der Bus brachte sie dahin, wo sie hinmußte, also mußte sie sitzen bleiben. Das erstickende Gefühl, gefangen zu sein, überwältigte sie. Als wäre sie auf einem Sklavenschiff. In Hand- und Fußschellen. Und einem Knebel im Mund, dachte sie. Sie versuchte zu protestieren und sah sich um. Sie fühlte sich, als ob sie sich gar nicht bewegen könnte. Eine Art Nervenlähmung. In ihr stieg Wut hoch und erstickte die Stimme. Gefangen in ihrer eigenen rasenden Wut.

Komisch, dachte sie. Bisher habe ich nie gewußt, wovon die Leute reden, wenn sie sagen, sie hätten Angst vor geschlossenen Räumen. Klaustro. Sie schaffte es, bis zu der Haltestelle, an der sie aussteigen mußte, im Bus zu bleiben; und schaffte auch den Ausstieg und den Weg von der Esplanade nach Baraswa, zum Rali, wo sie in vier Stunden zwei ihr unbekannte Menschen treffen sollte. Erleichtert, dem Bus entkommen zu sein und in der Hoffnung, daß das Gefühl, wahnsinnig zu werden, vorübergehen würde, beschloß sie, erst einmal einen Kaffee zu trinken und sich dann bis Mittag in Sendeni umzusehen.

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Aber als sie sich im Rali hinsetzte, wurde das Gefühl noch stärker. Es war ganz deutlich, daß es nicht wegging, sondern stärker wurde. Also hatte es nicht nur am Bus gelegen oder am Film. Es war die Fahrt hierher. Ins Herz der.

Es war nur der Beginn von noch mehr Folter von der üblichen pornographischen Sorte. Franzosen – Kolonialoffiziere, höhere Angestellte, Kaufleute, Seeleute und andere, weniger deutlich erkennbare Offizielle aus der Metropole waren hier. Um heftig geschminkte Reyone-Mädchen zu treffen. Sehr junge Mädchen. Kinder. Wie sie ihnen den Hof machten, war besonders schrecklich anzusehen. Weil sie weder geschäftsbewußte Prostituierte waren noch Mädchen, die einfach ihren Spaß haben wollten; diese armen Wesen waren ernsthaft auf der Suche nach Heiratskandidaten und agierten dabei – im Limbo der Kolonisation – wie leichte Mädchen. Diese Kinder. They know not what. Die Männer behandelten sie wie Spielzeug. Wie Ansichtsexemplare. Wie Dinger zum Vergnügen. Sahen sie an wie Tiere im Zoo.

Einige der Männer waren auch noch Kinder. Wie kleine Matrosenjungs von Sklavenschiffen. Wie junge Vormannsklaven, die neue Sklavinnen einkaufen sollen. Weib-Sklaven. Ihr wurde klar, daß es nicht einfach sein würde, die vier Stunden herumzukriegen. In Windeseile waren die Zeitungen ausgelesen. Sie ging zum Wasser und wieder zurück. Sie ging durch den Park. Der Wahnsinn, den sie im Bus gespürt hatte, wurde schlimmer. Und dann wurde ihr schlecht. Sie spürte ihre Galle hochkochen. Das war nicht nur Ekel. Sie beeilte sich, die Toiletten im Rali auszumachen, für alle Fälle.

Und dann, allerhöchste Alarmstufe, fiel ihr ein, daß sie ja Rowan Tarqin und Noella anrufen könnte. Sie erinnerte sich an sie von 1979 her, als Dharma und sie eine Woche lang bei ihnen gewohnt hatten. Waren sie immer noch hier, in Réunion? Sie war 1982 einmal mit Rowan essen gegangen. Daran erinnerte sie sich. Sollte sie anrufen? Sie brauchte schließlich Hilfe. Und sie waren die einzigen Menschen, die sie hier kannte. Ja, sie wollte sie anrufen.

Eine Welle des Ekels kam über sie. Sie ging zur Toilette und erbrach sich. Dann merkte sie, daß sie auch noch Durchfall kriegte. Sie mußte sich jetzt aufs Klo setzen. Als sie sich hingesetzt hatte, mußte sie sich wieder ganz schnell umdrehen und niederknien, da eine heftige Aufwärtswelle sie erfaßte – die auch gleich wieder den Sog nach unten verschlimmerte. „Komisch“, sagte sie. Das Gefühl überlaufender Galle, von Kotzangst und Scheißerei, ging, wie es schien, langsam vorüber.

Sie ging auf die Veranda zurück und las weiter Zeitung. Vielleicht sollte sie sich noch einen Kaffee bestellen. Nicht zu weit weg vom Klo. Gerade jetzt, wo der Buchladen und die anderen Geschäfte endlich aufmachen. Muß hier in der Nähe bleiben. Oder sollte sie doch Rowan anrufen, weil vier Stunden an diesem Ort doch nur eine einzige Folter sind? Er und Noella sind die einzigen Menschen, die sie hier kennt und an die sie denken kann. Vielleicht hat einer von beiden zufällig gerade Zeit und kann herkommen und sich mit ihr treffen. Sie retten.

Und als sie das dachte, fühlte sie die nächste Kotz- und Scheißwelle auf sich zurollen, auf Magen und Gedärm. Je kränker sie sich fühlte, desto mehr brauchte sie Hilfe. Je mehr sie die Tarqins anrufen wollte, desto übler wurde ihr. Zurück zum Klo. Alles raus.

Die Wände waren flüssig und die Gesichter der Leute wie im Inneren von Suppenlöffeln. Ganz verzerrt und unmenschlich. Der Kopf des einen Barmannes saß sogar umgedreht auf seinen Schultern.

Ihr Kopf schien anzuschwellen und sich wieder zusammenzuziehen. Sie fühlte sich wie Alice im Wunderland, mal zusammenschrumpfen, mal ins Unendliche wachsen. Er muß verrückt gewesen sein, Lewis Carroll, dachte sie. „Ich bin es jedenfalls.“ Die Stuhlpolster nahmen deutlich das Aussehen von Beton an, Gießbeton.

„Ist das die Wirkung von zweihundert Jahren Kolonisation, die mich plötzlich in einem einzigen Moment erwischt haben? Habe ich in meinen Körper eindringen lassen, was hier alle seit zweihundert Jahren schon spüren? Die Gespenster der Vergangenheit, sind sie so lebendig, daß sie angefangen haben, mich zu verfolgen? Alles, was Doorga mir je über sich erzählt hat, und Anjalay und Olga, die von den Bergen kam, und Ana de Bengal – ist es das, was mich fühlen läßt, was die Menschen hier fühlen? Und nicht einmal wissen, daß sie es fühlen?“ Ist das möglich? Daß sie zum Medium wurde für all die toten Sklaven der Vergangenheit? Zum Körper für ihre Seelen?

Ja, wahrscheinlich war es das. Eigentlich glaubte sie nicht an solchen Quatsch. Nur drückte dieses Bild die Dinge zufällig genau aus. „Oder bekomme ich einfach Angst vor dem Reisen?“ Zu lange im Dorf gewohnt. Surinam ist ein kleiner Ort. Das wird es sein. Komisch, daß sie das gar nicht gemerkt hatte, als sie 1984 nach Belgien, Holland, England gereist war. Aber hier, in Réunion, kommt es ihr plötzlich so vor, als ob offene Räume Angst in ihr auslösen. Angst davor, eingeschlossen zu werden. Im Bus. Angst vor draußen. Draußen in offenen Räumen zu sein. Du lieber Gott, Sita, die Furchtlose. Du hast keine Angst vor gar nichts, Sita. Sie hört die Stimme ihrer Mutter.

Und eine Welle aus Furcht ist da, die dieser Erinnerung widerspricht. Was wird ihrem Bild von sich selbst passieren, wenn das jetzt so bleibt? „Natürlich hast du keine Angst vor der Dunkelheit, Sita“, hat ihre Mutter gesagt, als sie drei Jahre alt war und ihre Mutter gefragt hatte, wieso manche Leute Nachtlampen hatten, veyez. „Angst ist etwas, das man entweder fühlt, oder man fühlt es nicht. Du, Sita, fühlst es nicht. Ich fühle es übrigens auch nicht“, hatte ihre Mutter gesagt. „Warum? Weil es doch jede Nacht wieder dunkel wird. Es hat gar keinen Sinn, Angst zu haben. Du hast ja sowieso keine Angst vor gar nichts, meine süße, kleine Sita.“ Das stimmte. Hatte sie nicht. Sie kannte keine Angst. Nie. Nur diese kleine Ausnahme hatte es gegeben, auf dem Weg zurück von der Demonstration auf der Pwentosabstraße. Sie hatte auch nie verstanden, wie das war: Angst haben. Was ist das bloß, hatte sie immer gedacht. Wieso hatten Leute Angst, woher kommt das Zittern, das Zurückweichen? Was meinen sie bloß, wenn sie sagen, daß sich ihnen der Hals zuzieht und der Magen klein wird vor Angst. Das war jetzt das zweite Mal. Der Abend nach dem Segelwettbewerb und der Demonstration das erste Mal. Und jetzt. Und sie erinnerte sich daran, daß sie damals schon, im Laufen von Pwentosab nach Porlwi, irgendwie an Sendeni denken mußte. „Es ist dieselbe Angst“, dachte sie und verstand nicht, was das bedeuten sollte.

Sie bestellte sich noch einen Kaffee. Noch ein bißchen in den Zeitungen lesen, das wollte sie jetzt, und fing schon an, die Werbung zu lesen. Es war Mittag. Kann sie noch anderthalb Stunden warten? Die Übelkeit und der wüste Magenkrampf kamen wieder. Sie dachte, sie müßte sterben. Sie war sich ganz sicher.

„Ich muß weglaufen.“ Das war es schließlich, was sie tat. Eine erwachsene Frau am hellichten Tag. Rannte weg. Wie die Zeugin Olga, die gesehen hatte, wie ihre Mutter das Hauptquartier der Kolonialherren in Brand steckte, weil man sie sonst umgebracht hätte. Wie die Zeugin Doorga, die gesehen hatte, wie ihre Mutter von den Zuckerbossen umgebracht wurde, und weggelaufen war, weil man sie sonst auch noch getötet hätte. Wie die Zeugin eines unbekannten Verbrechens mußte sie laufen, weil der Tod hinter ihr her war.

„Warum werde ich verrückt?“ dachte sie. Sie rannte zurück zum Busbahnhof. Sie wußte, daß kaum Busse fuhren. Sie hatte ein Buch über Vorschulerziehung in Mauritius, das für die zwei Unbekannten, die sie hatte treffen sollen, gedacht war, beim eher unwilligen Barmann im Rali deponiert. Und völlig vergessen, daß sie ja eine Telefonnummer hatte, daß sie hätte anrufen und absagen können. In totaler Panik war sie kopfüber losgestürzt.

Sie kam am Busbahnhof an, war die erste, die in einen der „privaten“ Busse kletterte, wartete entnervt, daß er sich füllte. Erleichterung breitete sich in ihr aus. Sie würde warten, so lange wie es eben dauert. „Entkommen“, dachte sie. Und sofort danach, das ist ja lächerlich. „Wem oder was denn wohl?“ Dann dachte sie, lieber ein Porno als diese Realität. Dann saß sie nur noch da und wartete, daß der Bus sich langsam füllte – was auch geschah im Laufe der nächsten ein, zwei Stunden. Die heftige Übelkeit ließ sie langsam los. Verblaßte. Und dann fuhr der Bus endlich los und machte sich auf den Rückweg nach Senzil. Fuhr immer wieder von der Hauptstraße ab zu den kleinen Städten und wieder zurück zur Hauptstraße. Gegen Ende der Reise schien ihr, daß die Menschen wieder normaler aussahen. Die Gesichter wach. Sie redeten. Lachten. Fast völlig erholt hatte sie sich. Aber das Gefühl, auf der Flucht zu sein, blieb doch. Wehre dich, oder.

Zwanzig Minuten dauerte der Fußweg zum Hotel. Sie wurde ruhiger. Frieden machte sich breit. Plötzlich aber, kurz vor der Ankunft im sicheren Hafen, brodelte Angst wieder hoch, sie fürchtete sich. Wieder dieses unbekannte Gefühl. Sie rannte los. Und rannte den ganzen Weg zum Hotel. „Sie sind hinter mir her“, dachte sie. Wer? Männer.

Zitternd vor Angst ging sie die Treppe hoch. Und versteckte sich in ihrem Zimmer. Ich stinke nach Angst, dachte sie. Oder ist es das Zimmer? Als sie den Raum betreten hatte und dann zum Klo gegangen war, hatte sich dieser Geruch bemerkbar gemacht. Der Geruch gedemütigter Weiblichkeit. „Es kommt von innen.“

Sie zog den Schlüpfer aus und wusch ihn, legte ihn auf den Fenstersims zum Trocknen. Ein Gefühl, wie wenn sie vergewaltigt worden sei. Sie roch sogar so. Sie wusch sich. Aber sie stank immer noch nach Angst. Nichts konnte diesen Geruch auslöschen. Den Geruch von Angst. Von Sklaverei. Den Geruch der Angst vor Vergewaltigung.