„Die spielen völlig verrückt!“

Spielforscher der Fachhochschule Dortmund warnen: Psychospiele gefährden Ihre Gesundheit! Das Spielen von „Therapy“ führt zur irreparablen Schädigung des Sozialverbandes!  ■ Von Michaela Schießl

Das mit dem Rotwein war eine Riesensauerei. Schuld war Gerd, Reginas Liebster. Er hatte den Bogen einfach überspannt, als er seinen Sexualtrieb ungeniert mit der Höchstnote 10 bewertete. Das war zuviel für seine Frau. In einem erruptiven Lachanfall spuckte sie den Rotwein, den sie im Mund hatte, im hohen Bogen über den Tisch. Doch noch bevor der rote Saft auf dem beigen Teppich landete, ahnte sie, daß dieser Abend mächtig schief laufen würde.

Dabei hatte alles so nett angefangen. Ganz spontan waren Peter und Heike, Arnika und Volker vorbeigekommen, gute alte Freunde, Familienmitglieder praktisch. Peter zog eine marineblaue Kiste unter der Jacke hervor mit der Aufschrift „Therapy“. „Hab' ich zu Weihnachten bekommen, ein Psychospiel. Los, alle aufs Sofa, wir spielen Seelenklempner.

Zu spät erkannten sie die Heimtücke dieses Brettspiels, keiner vermochte die Spielidee in Klartext zu übersetzen. Nämlich: Entlocke einem Mitspieler intime, peinliche, unaussprechliche Dinge, brüskiere, blamiere, beleidige ihn und lache dann über seine Versuche, sich die Verletztheit nicht anmerken zu lassen. Kurz: Sei ohne Grund boshaft, hinterhältig, gemein und gehässig, vorzugsweise zu engen Familienmitgliedern und geliebten Freunden.

Umgesetzt wird diese Idee ganz profan mit Fragen. Etwa: Wer in der Runde hat das ausdrucksvollste Gesicht? Wer war mit Sicherheit Klassensprecher? Wer ist am leidenschaftlichsten? Von wem träumst du heute nacht?

Zugegeben, das klingt harmlos, aufs erste Ohr. Außer, man ist derjenige, auf den keiner kommt beim Thema Leidenschaft. Oder Schönheit. Klugheit. Charme. Starker Tobak, wenn der Geliebte bekundet, daß er auf eine einsame Insel lieber ein Radio mitnehmen würde als seine Freundin. Die Offenbarung, mit wem am Tisch man am liebsten fremdgehen möchte, führt hundertprozentig zum Beziehungseklat, spätestens daheim. „Sag mal, seit wann funkt das denn schon zwischen dir und Peter? Wußt' ich ja gar nicht, daß du auf weißen Schwabbelbauch stehst. Was treibt ihr eigentlich, wenn ihr donnerstags angeblich Tennis spielt? Aber vielleicht ist die Idee gar nicht schlecht, ich glaub', ich geh' ab jetzt auch ein wenig Sport treiben, mit Heike.“ Drei Minuten später wird geschrien, nach fünf Minuten geweint, eine halbe Stunde später knallt die Haustür, nach drei Wochen ist die Beziehung zerrüttet, und Arnika zieht vorübergehend zu Schwabbelbauch, der von Heike verlassen wurde, weil er angeblich eine Affäre hat mit Arnika.

„Kein Einzelfall“, sagt Silvia Gregarek von der Spielforschungsstelle der Fachhochschule Dortmund. Die Sozialpädagogin und Spieleforscherin testet sämtliche Brettspiele auf ihre pädagogischen Wirkungen hin. Bei Psychospielen wie „Therapy“ hört bei ihr der Spielspaß auf. „Wir warnen vor diesen Spielen, besonders in der Zeit der Familienfeiern zwischen Weihnachten und Neujahr.“ Studentengruppen kamen mit beschwörenden Warnungen auf den Lippen aus dem Selbstversuch. „Die Leute, die Therapy spielen, sind halt keine Therapeuten. Da macht man ein Psycho-Faß auf, das man nicht mehr verschließen kann. Es entstehen schließlich keine ernsthaften Diskussionen, in denen etwas besprochen wird. Statt dessen serviert man einem Menschen möglicherweise eine niederschmetternde Einschätzung, lacht blöd und würfelt sich einfach aus der Verantwortung.“ Außerdem sei das Spiel feige. „Da werden im Überschwang, im Schutz der Gruppe und des „Spiels“ Dinge gesagt, die man sich sonst nie zu sagen trauen würde.“

Etwa, wenn öffentlich diskutiert wird, wer in der Runde am risikofreudigsten ist. „Klarer Fall. Peter macht doch jeden Scheiß, nein, Volker nicht, der war schon immer ein Schwanzklemmer, ein Leisetreter. Regina? Niemals, die revoluzzt nur nach Dienstschluß, und Arnika kannste vergessen, die will nur Heim und Herd.“ Man einigt sich auf Peter, weil der Weihnachten sogar bei seiner gräßlichen Schwiegermutter, Heikes Mutter, verbringt. Arnika und Heike sind beleidigt.

Zurück zum Rotweinfleck: Gerd war, Sekunden nach Reginas kompromittierendem Lachanfall, in den Erdboden versunken. Er tauchte unters Tischtuch, angeblich, um die Flecken wegzurubbeln. Doch Regina war gnadenlos: „Schaut, ein Wunder, Gerd putzt sonst nie“, krähte sie fröhlich. Boshaft fröhlich, fand Gerd und rubbelte stur, bis die „Gruppentherapeuten“ ihr Ergebnis präsentierten: eine 6 für Gerds Sexualtrieb, mehr war nicht drin, trotz Reginas Expertise. Nein, wegen ihrer Expertise. Gerd hörte sie immer noch kichern, und einen Augenblick lang dachte er daran, sie unterm Tisch zu beißen. „Du Miststück“, dachte er, „du hinterhältige Schlampe.“ Langsam kroch das verkannte Potenzwunder unter dem Tisch hervor und lächelte dünn. Und während Volker ins Psychosezentrum einfuhr, schwor Gerd Rache.

Volkers Aufgabe schien ganz einfach. „Therapeutin“ Petra wollte wissen, wer am Tisch am materialistischsten eingestellt sei. Lustig, dachte Volker und zerbrach sich den Kopf. Der Rest der Mannschaft lauerte gespannt. Wenn Petra ehrlich wäre, müßte nun auf den Tisch, was die Freunde jahrelang augenzwinkernd unter den Teppich gekehrt hatten. Volker müßte geoutet werden als Schnorrer, als ein Kerl, der sich immerzu alles leiht und nimmermehr zurückgibt, einer, der auf jeder Party tanzt, ohne jemals selbst einzuladen. Doch Volker hatte Regina auserkoren, weil sie die Flasche Champagner, die im Kühlschrank entdeckt wurde, nicht für den Spieleabend opfern wollte. „Wie wär's denn, wenn du zur Abwechslung mal was mitbringst, wenn du ohne Einladung hier einfällst“, sagte die Gastgeberin spitz. Peinliches Schweigen, schließlich hat keiner etwas mitgebracht. Petra überbrückte die Spannung, indem sie Volker zum Geldgeier des Jahres ernannte. Großer Applaus, nur Volker verstand die Welt nicht mehr. „Ich versteh' nicht, ich bin doch immer da, wenn man mich braucht, helf' doch jedem...“ Sein Wimmern blieb unerhört.

Heike zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Stocksauer war sie, weil sie bereits seit vier Runden bei ihrem langjährigen Freund Peter in Therapie saß, der sie einfach nicht heilte. Dazu wäre eine Übereinstimmung in einer Frage nötig – ein Unding. Den Tintenklecks, der ganz eindeutig ein Stierkopf war, hat er – typisch – als Uterus identifiziert, Heikes Konfliktfähigkeit stufte er mit mageren 5 ein („Außer wenn Streitsucht gemeint ist, dann nehm' ich die 10, hoho“); als Tier sei sie eher ein Papagei als ein Goldhamster, und außerdem geht sie lieber mit Richard von Weizsäcker aus als mit Götz George. Nur mit Mühe konnte sich Heike beherrschen. Doch beim Flop Nummer 5 war das Maß voll. Peter befand, daß sie, seine Heike, sich am besten als Strafrichterin eignen würde. „Jetzt reicht's mir endgültig“, schrie sein Weib und brach in Tränen aus. „Du siehst mich immer noch so wie vor fünfzehn Jahren, du spürst doch schon lange nichts mehr, du grober Klotz! Ich hab' mich längst verändert, ich hab' an mir gearbeitet, ich bin anders geworden, aber du kriegst nichts mit! Kommst von der Arbeit, knallst dich vor die Glotze, und ab und zu drauf auf die Mami. Und du willst mich beurteilen? Stumpf bist du, und gefühllos! Ich halte das nicht mehr aus! Ich will das nicht mehr aushalten!

Als Heike weinend aufsprang, sah Gerd die Stunde der Rache gekommen. Jetzt kriegt Regina ihr Fett, büßen wird sie, daß sie ihn zum Schlappschwanz erklärt hatte. Liebevoll nahm Gerd die heulende Heike in den Arm, streichelte ihr zart über den Kopf. Aus den Augenwinkeln heraus lugte er zu Regina. Was er sah, gefiel. Regina war wieder knallrot, aber diesmal vor Eifersucht. Sehr gut. Mehr. Sanft küßte er Heike auf die Wange, wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. Nun schien Regina der Ohnmacht nahe. Zeit für den Todesstoß. Gerd packte seinen Mantel, und den von Heike. „Wir gehen ein bißchen raus. Ach ja, Regina, warte nicht auf mich. Das macht dir ja sicher nichts: schließlich bist du heute abend zur Tolerantesten der Gruppe erkoren worden.“