Moskau: Antikriegsbewegung formiert sich

■ Frühere Dissidenten wenden sich mit Appellen an die westliche Öffentlichkeit

„Jeden Tag müssen wir mitansehen, wie Flugzeuge Wohnquartiere bombardieren. Jeden Tag sehen wir die Leichen der Zivilbevölkerung, zerschossen, ohne Kopf, ohne Beine. Boris Nikolajewitsch! Ich schäme mich, daß ich hier auf Fragen antworten muß, die an Sie gerichtet sind.“ Mit diesen Worten beginnt ein Telegramm, das Sergej Kowaljow, Menschenrechtsbeauftragter der russischen Führung, Boris Jelzin aus dem umkämpften Grosny in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember sandte.

Kowaljow ist ein alter Dissident. In den siebziger Jahren hatte man den Redakteur der Samisdat-Publikation „Chronik der laufenden Ereignisse“ zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Jetzt steht er an der Spitze der kleinen Antikriegsbewegung: Unmittelbar nach Kriegsausbruch Mitte Dezember war er mit einer Gruppe von Parlamentariern und einem Vorstandsmitglied der Gesellschaft „Memorial“ nach Grosny gereist. Die tschetschenische Hauptstadt will er erst verlassen, wenn Jelzin das militärische Eingreifen beendet.

Seit Mitte Dezember hält „Memorial“ täglich im Moskauer Zentrum eine Mahnwache ab. Am 26. Dezember war diese von der Miliz aufgelöst worden. Von den zirka 40 TeilnehmerInnen wurden 24 festgenommen, unter ihnen Alexander Podrabinek, der neun Jahre in sibirischer Lagerhaft war. Alle wurden noch am gleichen Tag zwar freigelassen, zehn von ihnen müssen sich aber seit gestern wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ vor Gericht verantworten.

Wenige Tage zuvor hatten sich 24 russische Menschenrechtsorganisationen, unter ihnen „Memorial“, die „Helsinki Citizens Assembly“ und das „Komitee der Soldatenmütter“, an westliche Menschenrechtsgruppen gewandt. „Wir wissen alle, daß Menschenrechtsverletzungen nicht die innere Angelegenheit eines Landes sind“, so der Brief. Schließlich habe auch Rußland internationale Abkommen hierzu unterschrieben. Die Menschenrechtler rufen den Westen auf, auf die Entsendung unabhängiger Beobachter nach Grosny zu dringen. Und sie bitten, Verbandsmaterial und Medikamente in die tschetschenische Hauptstadt zu schicken.

In einem weiteren offenen Brief, den „Memorial“ an Helmut Kohl sandte, zeigen die Bürgerrechtler zwar Verständnis für die Haltung, sich nicht in die inneren Angelegenheiten Rußlands einmischen zu wollen. Der Westen dürfe jedoch nicht die Augen verschließen vor einer Entwicklung, in der die Armee gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt wird.

Bei den Aktionen gegen den Krieg kommt es zu unvorstellbaren Konstellationen. So kann sich „Memorial“, eine vom Dissidentenmilieu der siebziger und achtziger Jahre geprägte Bewegung, inzwischen eine Zusammenarbeit mit der Kommunistischen Partei von Genndaij Sjuganow durchaus vorstellen. Unterstützung erhält die Regierung somit nur noch von extrem nationalistischen Kräften, wie beispielsweise Wladimir Schirinowski. Daher warnt Memorial: „Die kleiner gewordene gesellschaftliche Basis des Präsidenten muß für die westlichen Regierungen Anlaß zur Besorgnis sein, steht damit doch die demokratische Zukunft Rußlands zur Disposition.“

Doch die Bereitschaft von deutschen PolitikerInnen, Rußlands Vorgehen in Tschetschenien zu verurteilen, ist gering. Lediglich drei bündnisgrüne Abgeordnete haben sich in einer Erklärung hinter „Memorial“ gestellt und Jelzin aufgefordert, die Truppen aus Tschetschenien zurückzuziehen.

Doch auch bei Memorial ist man in der Frage, ob Tschetschenien ein unabhängiger Staat werden darf, gespalten. Während die einen Tschetschenien gehen lassen wollen, meinen andere, daß Grenzveränderungen nur zu neuem Blutvergießen führen werden. Für die Kommunisten kommt eine Unabhängigkeit Tschetscheniens nicht in Frage. Für sie, die einerseits den Feldzug gegen die nach Unabhängigkeit strebende Republik ablehnen, ist andererseits klar, daß Tschetschenien Teil Rußlands ist. Bernhard Clasen