Der Exodus der syrischen Juden

In Damaskus leben heute nur noch rund 300 Juden / Im Jahre 1992, vor der Erteilung von Ausreisegenehmigungen, waren es noch über 3.000 / Viele gehen mit Bedauern, weil sie ihr traditionelles Leben nicht mehr führen können  ■ Von Norbert Mattes

Als Anfang des Jahres Rabbi Abraham Hamra die syrische Hauptstadt Damaskus in Richtung New York verließ, war der schochet, der Schlächter, bereits dorthin unterwegs. Seit diesem Jahr gibt es auch keinen mohel mehr, der die Beschneidungen durchführt. Heute leben noch ganze 300 Juden in Damaskus, einige Familien in Aleppo und eine kleine Gemeinde in Qamischli im Norden Syriens. Noch Ende 1992, als die freie Ausreise für alle Juden genehmigt worden war, hatte Rabbi Abraham Hamra konstatiert: „Die Hälfte der Gemeinde will bleiben.“ Damals lebten in Damaskus noch immer zwischen 3.000 und 4.000 Juden.

Die Einschätzung des Rabbi gab die Stimmung unter den Damaszener Juden wieder: Die Hälfte wollte ausreisen zu den syrisch-jüdischen Gemeinden in New York und Argentinien, ein kleiner Teil nach Israel. Nach Angaben israelischer Zeitungen sind bis Oktober 1994 allerdings 3.670 Juden aus Syrien nach New York gereist; zwischen April und Oktober 1994 kamen 1.262 nach Israel. Dort gibt es in Holon eine syrisch- jüdische Gemeinde.

Daß überraschenderweise doch weit mehr emigrierten, hat wohl auch damit zu tun, daß die Menschen keine Perspektive sehen für ein traditionell religöses Leben ohne den geistlichen Beistand eines Rabbi, ohne schochet und ohne mohel. Für die Restgemeinde wird koscheres Fleisch aus Zypern oder der Türkei importiert. Jetzt soll einmal im Monat ein Rabbiner aus Istanbul kommen.

Daß Abu Hamra, wie der Rabbi respektvoll von den christlichen und muslimischen Nachbarn des Hayy al-Yehud, des jüdischen Viertels, genannt wird, die Gemeinde zurückgelassen hat, hat viele von ihnen verwundert. „Politik“, ist schulterzuckend ihr Kommentar. Wenn der Rabbi geht, dann gehen die anderen auch. Viele bezweifeln die Freiwilligkeit der Auswanderung.

Eine Ausreisegenehmigung für alle Juden war Verhandlungsgegenstand bei dem Treffen zwischen dem syrischen Staatschef Hafis el-Assad und US-Präsident Bill Clinton Ende 1993. Auch bei dem letzten Treffen des amerikanischen Außenministers Warren Christopher mit Assad im Oktober 1994, das im Kontext der israelisch-syrischen Friedensgespräche stand, waren die in Damaskus verbliebenen Juden Gesprächsthema. Dies ging aus einer Bemerkung Christophers hervor. Yusuf Dschadschati, Gemeinderatsmitglied und jetziger Sprecher der Restgemeinde, bestätigte, daß alle jetzt über Ausreisepapiere verfügten. Gleichzeitig betonte er, daß sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinde fühlten, als seien sie vom Westen zur Ware gemacht worden. Weiter nahm Dschadschati nicht dazu Stellung. Er fügte nur hinzu, daß der amerikanische Botschafter in Damaskus ihn mehrmals besucht habe.

Es liegt nahe, eine Parallele zu der Aktion „Heimholung“ der jemenitischen Juden zu ziehen, die seit Jahren von Israel betrieben wird. Als diese Aktion 1993 in Israel bekannt wurde, griff die Thorafahne, eine aschkenasisch-orthodoxe Zeitung, die sefardisch-orthodoxe Schas-Partei an, weil diese die „erzwungene Assimilierung“ der religiösen Jemeniten betreibe. Ihre „Heimholung“ ins „Land der Unmoral“ – gemeint ist Israel – sei ein „schrecklicher Skandal“.

Der orthodoxe Zentrale Rabbinische Kongreß der USA und Kanadas hat im vergangenen August an das jemenitische Volk und die Regierung appelliert, das Vorhaben Israels zu unterbinden. Die Juden seien ein Teil der Gesellschaft und der tausendjährigen Geschichte des Landes und sollten deshalb im Jemen bleiben.

Eine Handwerkstradition droht zu verschwinden

Spricht man den Exodus der Juden an, schwingt bei vielen Damaszenern ein leises Bedauern mit. Bedauern deshalb, weil sie wissen, daß ein alteingesessenes urbanes Element verschwinden wird. Viele Christen, hauptsächlich aber Muslime, kauften beim jüdischen Metzger ein oder gingen zu jüdischen Ärzten. Letztere waren sehr beliebt, nicht nur wegen ihrer Qualifikation, sondern auch, weil sie bei ärmeren Patienten auch einmal auf das Honorar verzichteten.

1992 gab es in Syrien noch über 40 jüdische Ärzte und Zahnärzte, 20 Apotheker, 10 Ingenieure, 2 Anwälte und 35 Hochschullehrer und Lehrer. Einige der bedeutendsten Damaszener Textilarbeiten stammten aus der Produktion jüdischer Unternehmer, die ihre Ware in Geschäften verkauften, die in den Stadtteilen Salhiyya und Qasaa gelegen waren. Viele Handwerker, insbesondere aus der Tradition der Damaszener Kupfer-Silber-Einlegearbeiten auf Messing, waren Juden. Man befürchtet nun im Basar von Damaskus, daß diese spezfische Damaszener Handwerkstradition verlorengehen könnte.

Wenn man heute durch das Hayy al-Yehud geht, fallen die geschlossenen Läden und die leerstehenden Häuser auf — mit einer aufgeklebten Mitteilung des Steuereintreibers, in der festgestellt wird, daß er niemand angetroffen hat und erneut vorstellig wird. Manche jüdische Geschäfte im Basar sind schon verkauft. In Syrien gilt, daß Immobilien in staatlichen Besitz übergehen, wenn sie zwei Jahre lang leerstehen.

Die Ursprünge der jüdischen Gemeinde in Damaskus liegen über 2.000 Jahre zurück. Die Gemeinde bestand aus einheimischen Juden und Karäern. Als die katholische Reconquista Spanien eroberte und der Terror der Inquisition wütete, flüchteten Muslime und Juden. Der osmanische Sultan Beyazid II (1481–1512) nahm die Juden aus Spanien auf. Nachdem die Osmanen 1516 die arabische Welt eroberten, siedelten sich auch dort viele Juden neu an.

Der seit dem 16. Jahrhundert stattfindende Prozeß der Integration des Osmanischen Reiches in den Weltmarkt durch die expansiven europäischen Märkte hatte seine Auswirkungen auch auf die dortige Gesellschaft. Viele Juden und Christen standen in Diensten der europäischen Handelsgesellschaften. Sie genossen besondere Privilegien, die berat. Diese Privilegienhalter, beratalis, unterlagen nicht der osmanischen Gerichtsbarkeit und auch nicht den Steuergesetzen. Für sie waren gemischte osmanisch-europäische Gerichtshöfe zuständig.

Die alten Christengemeinden hatten nicht, wie Norman Stillman aufzeigt, „in ihrem Warenhaus der antijüdischen Überlieferungen die üblichen europäischen Horrorstories von Hostienentweihung und Blutopfer“ gegen die Juden. Zum ersten Mal tauchten derartige Beschuldigungen 1840 in Damaskus auf, nachdem ein Pater, Leiter des franziskanischen Konvents, umgebracht worden war. Die Mönche beauftragen den französischen Konsul Ratti-Menton mit der Untersuchung. Der Konsul, ein bekannter Judenhasser, konzentrierte sich sofort auf die Juden, obwohl Aussagen über eine Morddrohung vorlagen, in der Rache für eine angeblich blasphemische Äußerung gegenüber dem Propheten Muhammed angedroht worden war. Viele Juden wurden verhaftet und gefoltert.

Von diesem durch äußere Faktoren bedingten Ereignis abgesehen, war das Zusammenleben relativ friedlich. Die älteste Synagoge außerhalb von Damaskus, so berichtete der preußische Konsul Wetzstein im 19. Jahrhundert, wurde auch von den Muslimen als heilig erachtet. Die Rabbiner wurden von den Imanen gebeten, gemeinsam um Regen zu bitten. Diese Tradition war bis vor kurzem noch lebendig.

Im Zuge der Reformen im osmanischen Reich wurde 1839 zum ersten Mal der legale Status von Nichtmuslimen durch den osmanischen Sultan festgelegt. 1856 kamen weitere Erlasse hinzu, die die Rechte der Andersgläubigen erweiterten.

Schon sei dem Putsch der Jungtürken in Istanbul 1908 begannen Juden nach Südamerika und in die USA auszuwandern. 1915 wurde Dschamal Pascha von der Hohen Pforte als Gouverneur für die arabische Provinz Bilad asch-Scham (Syrien, Palästina und Libanon) eingesezt. Die sich ankündigende britisch-arabische Allianz im Ersten Weltkrieg ließ ihn brutal gegen die arabischen Nationalisten vorgehen. Aber auch Zionisten aus Palästina verschleppte er ins Gefängnis von Damaskus. Nach dem Sieg der arabischen Bewegung erklärte sich 1920 der Syrische Nationalkongreß für unabhängig, Emir Faysal wurde König.

Faysal unterstützte Elias Sasun, einen Damaszener Juden, bei der Herausgabe einer Zeitung. Der Einmarsch der französischen Truppen 1920 machte die Unabhängigkeit und somit dieses Projekt zunichte. Später, in den Jahren 1948/1949, war Sasun der wichtigste israelische Verhandlungsführer mit den arabischen Staaten.

Toleranz war für die erste Generation der arabischen Nationalisten der Kitt der nationalen Einheit gegen die französische Kolonialpolitik der Spaltung des Landes in Muslime, Christen und Stämme. Doch der Palästinakonflikt, besonders in der Zeit der Staatsgründung Israels 1948, und der ins Land strömenden palästinensischen Flüchlinge, ließen auch dort die Emotionen hochkochen. Es kam zu Ausschreitungen gegen die Juden. Viele emigierten nach Südamerika, in die USA und nach Israel. Nach einer französischen Statistik der 40er Jahre gab es in Syrien damals 26.000 Juden. Anfang der 60er Jahre waren es nur noch 4.000 bis 5.000.

Eine Zeitlang wurden sie starken Restriktionen unterworfen. Viele, die Verwandte in Israel hatten, durften keinen Kontakt aufnehmen, dies konnte als Hochverrat geahndet werden. Sie galten als Sicherheitsrisiko und waren Diskriminierungen unterworfen: Die Religionszugehörigkeit wurde in den Paß eingestempelt, ohne Reisegenehmigung durfte man sich nur im Umkreis von vier Kilometern seines Hauses aufhalten, bei Reisen mußten immer Familienmitglieder in Syrien bleiben und hohe Bankbürgschaften hinterlegt werden. Einige Jahre war ihnen der öffentliche Dienst verschlossen. Immobilien durften weder gekauft noch verkauft werden.

Doch die lange Tradition friedlichen Zusammenlebens von Muslimen und Juden wurde auch in den Krisenzeiten des Nahostkonfliktes nicht völlig verschüttet. Während des Sechstagekrieges 1967 und der Besetzung der Golanhöhen durch Israel oder während des Krieges von 1973 hatten die jüdischen Läden in Damaskus geöffnet, arbeiteten die jüdischen Handwerker im Basar. Es gab keinerlei Übergriffe.

Auswanderung nach Brooklyn, New York

Nach dem Putsch von Hafis el-Assad 1970 verbesserte sich die Lage der Juden in Syrien. Fünf Jahre später traf sich Rabbi Abraham Hamra erstmals mit dem Präsidenten. Auslandsreisen, um Verwandte zu besuchen, wurden erleichtert. Nach dem Besuch von US-Präsident Jimmy Carter in Syrien wurde jüdischen Mädchen gestattet, in New York oder Argentinien zu heiraten, denn es herrschte ein Mangel an heiratsfähigen jüdischen Männern. Juden durften wieder Immobilien erwerben und ihre Kinder auf die Universität schicken.

Im April 1992, als Mitglieder des jüdischen Gemeinderates und der Rabbi die obligatorische Gratulation, die bei der Wiederwahl des Präsidenten üblich ist, bei Hafis el-Assad absolvierten, konnten sie die Freilassung zweier Brüder veranlassen, die wegen angeblicher illegaler Auslandsreisen verurteilt worden waren. Danach wurden auch die Ausreisebeschränkungen fallengelassen. Die Hälfte der über 4.000 Juden stellte anschließend einen Ausreiseantrag nach New York, wo die syrisch-jüdische Gemeinde in der Flatbush Area in Brooklyn lebt.

Ende Oktober reiste Rabbi Abraham Hamra von New York nach Israel. Dort lebt seit einigen Jahrzehnten seine Schwester. Yusuf Dschadschati und der jüdische Rechtsanwalt al-Qutri gaben der Nachrichtenagentur Reuter in New York ein Interview, in dem sie klarstellten, daß sie nicht die Absicht häten, ihre Tätigkeiten in Syrien aufzugeben. Rechtsanwalt al- Qutri meinte, daß das Leben in den USA für die syrischen Juden nicht einfach sei, sie hätten eine andere Sprache, Kultur und Tradition; man könne aus einem Ostler keinen hundertprozentigen Westler machen. Die Ausreisenden seien getäuscht worden. Die Nachrichtenagentur sprach von 200 Personen, die nach Syrien zurückkehren wollten. Zum Vergleich der sozialen Lage in Syrien und den USA meinte der Anwalt al Qutri: „Wenn du in den USA bist und 100 Lira in deiner Tasche hast, hast du Angst. In Syrien ist es möglich, mit einem Beutel Geld durch die Straßen zu gehen, und keiner greift danach.“

Dschadschati ist mittlerweile nach Syrien zurückgekehrt. Er verwahrt die Schlüssel der Synagogen in Damaskus. Seinen Angaben zufolge ist die Synagoge in Aleppo geschlossen, nur die in Qamischli und drei in Damaskus seien noch geöffnet. Die Maimonides-Schule in der syrischen Hauptstadt sei ebenfalls offen.

Über die Juden, die in Damaskus bleiben wollen, urteilt der Vizepräsident des „American-Jewish Distribution Comittee“, Michael Shneider, folgendermaßen: Das seien Leute, die reich geworden seien, weil sie Geschäfte mit dem syrischen Geheimdienst gemacht hätten. Sie wohnten alle in einem luxuriösen Damaszener Vorort (der freilich trotz aller Anstrengung nicht zu finden ist). Dem stellte Shneider die Gemeindemitglieder gegenüber, die im Ghetto wohnten.

Hier wird aus politischen Gründen mit einem „Ghetto“-Begriff argumentiert, der charakteristisch für die Lebensverhältnisse von Juden in Osteuropa war.

In Damaskus geht es jedoch um ein Wohngebiet, das für die gesamte Bevölkerung nach Ethnizität und Religionszugehörigkeit gliedernd wirkt, wie in vielen Städten des Nahen und Mittleren Ostens. Die Stadtviertel sind selbständige soziale Einheiten, Reich wohnt neben Arm, sozial homogen sind sie nur, wenn dort bestimmte Berufszweige ansässig sind. Sie haben ihre Kirchen, Moscheen oder Synagogen, Bäder, und Märkte, die heute allerdings nicht mehr die gleichen sozialen Funktionen erfüllen wie vor 100 Jahren.

Unabhängig von dieser Kontroverse bereitet sich Rabbi Abraham Hamras unterdessen in Israel auf eine neue Aufgabe vor. Seine Schwester kündigte kürzlich an, ihr Bruder werde wahrscheinlich demnächst eine wichtige Rolle als Vermittler im Friedensprozeß zwischen Israel und Syrien spielen.