Raumschiff Spinoza

Jetzt auch für Surfer-Philosophen: Zwei Bücher über den Denker, der das Jenseits aus der Philosophie vertrieb  ■ Von Sebastian Weber

Als die Philosophie noch unbescheiden und der Mensch nur ein Thema unter anderen war, stellte sie sich die Welt vom höheren Gesichtspunkt der Unendlichkeit und göttlichen Vollkommenheit vor. Ihr Glück: Die Dinge hier unten überfliegen und schauen. Für dieses Programm prägt Baruch Spinoza (1632–1677) in seiner „Ethik“ die Formel von der „amor dei intellectualis“, der geistigen Liebe zu Gott. Unter den Gläubigen hat er sich damit keine Freunde gemacht, was einleuchtet, wenn man den unüberbrückbaren Abstand ermißt, der ihren Gott von seinem trennt: Auf der einen Seite ein temperamentvolles Wesen, auf der anderen naturgesetzmäßige, unpersönliche Produktivität, die ohne ein Endziel auskommt.

Die – göttliche – Natur als Produktion von Unendlichem auf unendliche Weisen – das zu denken kann immer noch einen gründlichen metaphysischen Schwindel hervorrufen. Vielleicht auch dann, wenn die spinozistische Produktivität des Seins in die Geschichte einfällt und dort als Befreiung und Entfaltung der Produktivkräfte auftritt, die mit den sie fesselnden Produktionsverhältnissen kollidieren. Eine riskante Kreuzung von Marx und Spinoza, historischem Materialismus und häretischer Metaphysik, wie sie Antonio Negri mit seinem im Gefängnis geschriebenen Buch „Die wilde Anomalie – Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft“ ausprobiert hat. Das unakademische, aber schwierige Buch fand nur wenig Beachtung, und Klaus Wagenbach, der Verleger der deutschen Ausgabe, beklagte sich damals, Anfang der achtziger Jahre, es gebe inzwischen in Deutschland mehr Philosophieprofessoren als Käufer solcher Bücher, potentielle Leser würden sich inzwischen wohl lieber Surfbretter anschaffen. Jetzt gibt es wieder einmal ein Buch zu Spinoza, das auch der eine oder andere Surfer lesen könnte, selbst wenn er nicht Philosophieprofessor ist, obwohl es von einem geschrieben wurde: Yirmiyahu Yovels „Spinoza – Das Abenteuer der Immanenz“. Verglichen mit der glühenden Atmosphäre bei Negri, herrscht hier trockene Luft.

Illusionen und Mystifikationen wirken, indem sie als selbstverständlich betrachtet werden und im Zweifelsfall auf die Unterstützung höherer Instanzen – nicht nur ideeller Art – zählen können. Mit ihnen gerät eine Philosophie, die von Einschüchterung und anderen Denkblockaden heilen will und deshalb immer wieder das Gegenmittel der konsequenten Immanenz verschreiben muß, zwangsläufig in Konflikt. Ihr Weg läuft über Gefahren, Rückschläge und Durchbrüche; und wenn man von Spinoza ausgeht, der mehr als die meisten wagte und dadurch vieles erst möglich gemacht hat, dann ist es korrekt, wie Yovel von einem „Abenteuer“ zu sprechen. „Während andere Rationalisten, einschließlich Descartes und Leibniz, in ihrer Ontologie das theistische Weltbild des Christentums erneuerten, tilgte Spinoza jede Spur einer jenseitigen Welt, sei sie als metaphysische Entität oder als Quelle von Normen und Werten gedacht.“ Voraussetzung dafür ist, „die Natur aller anthropomorphen Züge zu entkleiden und den Menschen selbst ganz auf Natur zu reduzieren“. Nicht um ihm erneut seine Schwäche vor Augen zu halten, sondern um ihn über seine wirklichen Kräfte im Unterschied zu den bloß eingebildeten eines freien Willens aufzuklären.

Doch auch jenseitige Welten mitsamt Ablegern hängen am Dasein. Ihre Beharrlichkeit gegenüber Kritik zeigt sich schon daran, daß es für nach-spinozistische Denker vom Format eines Feuerbach, Marx, Nietzsche oder Freud immer noch genug zu tun gab, ohne daß nach ihnen die Arbeit des Aufklärens und Abbauens erledigt wäre. Ihr nach- und antimetaphysisches Denken setzt das Unternehmen Spinozas fort, wie, davon handelt der zweite – hermeneutische – Teil von „Das Abenteuer der Immanenz“.

Nicht allein historisch gesehen, stehen die eben genannten Wegweiser eines gottlosen Denkens Yovel näher als die Initialfigur Spinoza. Und zwar deshalb, weil ihm das Metaphysische in dessen Philosophie der desillusionierenden Befreiung fremd bleibt. Wo sich das als Unbefangenheit äußert, kommt es dem Leser zugute. Die Stellen, wo der Ehrfurchtsabstand zu den metaphysischen Brennpunkten wie Gott, Substanz, Ewigkeit durchbrochen wird, gehören zu den besten seines Buchs. Schließlich kommt es in der Geistesgeschichte selten genug vor, daß jemand diese schwerwiegenden Begriffe im Zusammenhang mit einer Kunst der Camouflage darstellt. Nach der Lektüre des ersten – historischen – Teils, im dem Spinoza als der „Marrane der Vernunft“ charakterisiert wird, weiß man, wie eine große philosophische Deterritorialisierungsbewegung biographisch aussieht: Marranen waren spanische Juden, die nach der christlichen Reconquista zur Konversion gezwungen wurden, unter dem Druck der Inquisition aber insgeheim an ihrem Glauben festhielten oder auswanderten, wodurch wiederum ihr Verhältnis zur eigenen Religion sich wandelte, bis schließlich jemand wie der junge Spinoza sich von dieser bereits brüchig gewordenen Traditionslinie löst, in seiner Geburtsstadt Amsterdam, wohin es seine Vorfahren verschlagen hatte, aus der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen wird, ohne jedoch zum Christentum überzutreten, um fortan konfessionslos zu leben. Vor dem Hintergrund dieser rasanten Bewegung wird erklärt, wie und warum Spinoza sein Denken tarnte, und nebenbei versteht man dann auch, weshalb dieses Denken mit seinen Doppeldeutigkeiten und anderen Vorsichtsmaßnahmen es niemandem leichtmacht.

Symptomatisch dafür, daß Spinozas Werk nach wie vor als „erratischer Block“ (K. Löwith) in der Philosophiegeschichte steht, ist das Unverständnis gegenüber seinem Erkenntnisenthusiasmus: Wer die innere Notwendigkeit des Denkens praktisch realisiert und es damit von äußeren Zwecken und Absichten befreit, gelangt über Erinnerungen, Gewohnheiten, Meinungen hinaus und kann sich somit zu einem Zustand innerweltlicher, „alternativer Erlösung“ – Yovels Umschreibung dessen, was bei Spinoza „Glückseligkeit“ heißt – aufschwingen. Der Mensch ist nicht frei, denn er hat den allgemeinen Gesetzen der Natur zu folgen, aber abheben kann er trotzdem, und insofern ist er doch frei. In seinem „Politischen Traktat“ kommt Spinoza auf diese Spannung zu sprechen: „Ich habe die menschlichen Affekte, als da sind Liebe, Haß, Zorn, Neid, Ruhmsucht, Mitleid und die übrigen Gemütsbewegungen nicht als Fehler der menschlichen Natur betrachtet, sondern als ihre Eigenschaften, die ihr gerade so gut zu eigen sind wie der Natur der Luft, die Kälte, der Sturm, der Donner und dergleichen; mögen sie auch unbequem sein, notwendig sind sie doch, und sie haben bestimmte Ursachen, aus denen wir ihre Natur zu erkennen suchen, und der Geist ergötzt sich an ihrer wahren Betrachtung gerade so wie an der Erkenntnis dessen, was den Sinnen angenehm ist.“

Mit der Feststellung, daß selbst die Erkenntnis dessen, was einen sonst unangenehm berührt, Freude bereiten kann, hat der Aufstieg zur philosophischen Glückseligkeit erst angefangen. Yovel indessen weigert sich abzuheben; er verbleibt auf dem gediegenen Standpunkt der menschlichen Endlichkeit. Die spinozistische Spannung zwischen der zwingenden Notwendigkeit im Lauf der Dinge und der befreienden Notwendigkeit ihrer Erkenntnis wird entschärft.

Klar, daß mit der Abkehr von der emphatischen Auffassung der Welt – „Schild der Notwendigkeit! Höchstes Gestirn des Seins!“, wie es spinozistisch bei Nietzsche klingt – auch die Vision einer Philosopie erlischt, die um diese Welt ihre Kreise zieht und sich obendrein als deren höchster Ausdruck versteht. Mit dem Autor kann man das für die Ernüchterung gegenüber dogmatischer Überschwenglichkeit halten, gegen ihn für einen akuten Fall von Unterforderung des Denkens, zumal wenn er seine eigene Auffassung zur Immanenz darlegt: „Menschen überwinden ihren natürlichen Zustand und geben ihrer Existenz Sinn und Richtung dadurch, daß sie Werte und Normen setzen; und das bleibt auch dann wahr, wenn es nicht jenseits der Geschichte einen körperlosen Führer gibt, der ihren Weg vom Standpunkt der Ewigkeit aus leitet.“ Plötzlich erscheint alles ganz vertraut; die Welt der runden Tische und heißen Stühle hat uns wieder. Trotz – oder gerade wegen? – des Verzichts auf göttliche Garantiesiegel wie „Für immer und ewig“, die ja mitunter auch für eine gewisse Qualitätskontrolle gut waren, breitet sich da ein fader Konformismus der Normen und Werte aus. Daß sich schon seit längerem der Mensch als deren Schöpfer betrachtet, mag ihn zwar für manches entschädigen, verhindert aber den Durchblick auf das, was wirklich mit ihm geschieht, wenn er gerde mit Wertesetzen und Meinungsbilden beschäftigt ist. Genau zu diesen meist gut abgeschirmten Produktionsvorgängen finden sich bei Spinoza erstaunliche Einsichten. Deshalb hier noch der Hinweis auf ein brauchbares Buch zu diesem Problem, das gerade wieder erschienen ist: Pierre-François Moreaus „Spinoza – Von der Anstößigkeit seiner Gedanken“. Hier wird ein Spinozismus ins Feld geführt, der eine Allianz zwischen metaphysischer Erkenntnis und einer Konzeption physischer Kräfteverhältnisse anvisiert, um den gesunden Menschenverstand zurückzudrängen. Gegen Meinungen, die Normalform alltäglichen Denkens, spricht nicht so sehr, daß sie einem letzte Gewißheiten vorenthalten, sondern vielmehr, daß sie von der Unkenntnis ihrer Herkunft und Entstehung leben; nicht, daß sie immer falsch liegen, sondern daß sie weiterführende Bewegungen blockieren. Sie wie bloße Fehler zu behandeln, die nur darauf warten, aus der Welt geschafft zu werden, ist jedoch genauso zwecklos, wie ihre dialektische Überwindung anzustreben. Was sonst? Dazu ein Beispiel aus der „Ethik“ für die veränderbaren Kräfteverhältnisse des Denkens: Da wir einen Körper haben, scheint uns die Sonne ziemlich nahe zu sein; weil wir aber auch erkennen können, wissen wir, daß sie es nicht ist, und können auch wissen, warum sie uns wider besseres Wissen dennoch so erscheint. „Die Sonne der Astronomie hat also die Sonne der Sinne zurückgedrängt; trotzdem konnte sie diese nicht verschwinden lassen“, heißt es dazu bei Moreau. Wegen seines Eigensinns sollte man den Körper nicht verachten. Anstatt ihm und seinen Affektionen moralisch zu Leibe zu rücken, muß man diese so organisieren, daß sie über sich hinausweisen und so die Positionen des Denkens gegenüber den mehr oder weniger angenehmen Überraschungen des Lebens zu stärken. Die aktive Produktion von Erkenntnissen – der Gesichtspunkt, unter dem Spinoza für den französischen Marxisten Louis Althusser so wichtig war – hat ihrerseits affektive Auswirkungen. Es ist die Freude daran, den Zusammenhang der Dinge, der sich weder einfach registrieren noch betrachten läßt, denkend zu produzieren. Was die Philosophen sich als Glück vorstellen, beschränkt sich oft genug darauf, daß man sich gegen Erschütterungen abdichtet – auch das ist bei Spinoza anders.

Yirmiyahu Yovel: „Spinoza – Das Abenteuer der Immanenz“. Aus dem Englischen von Brigitte Flickinger. Steidl Verlag, 550 Seiten, 78 DM.

Pierre-François Moreau: „Spinoza – Von der Anstößigkeit seiner Gedanken“. Aus dem Französischen von Rolf Löper. Mit einem Nachwort von Friedrich Balke. Fischer, 188 Seiten, 18,90 DM.