Verstaubte Schaukästen und Vitrinen

Mit neuen Konzepten versuchen Museen die Naturgeschichte begreifbar zu machen  ■ Von Andreas Sentker

Ein einsames Nashorn steht in seiner stuckgefaßten Vitrine des Field Museum of Natural History in Chicago. „Majestätisch“, kommentiert ein Besucher die Szene, die auf andere beklemmend wirkt. Mit der Vitalität, die Dürers Rhinozeros-Holzschnitt auszeichnete, hat dieses Ensemble wenig zu tun. Vis vitalis, die der Natur innewohnende Kraft, wird dagegen in Paris zelebriert. Zwei Raubtiere kämpfen im Museum National D'Histoire Naturelle um ihr Überleben. Mitten im alles entscheidenden Augenblick scheint die Zeit stillzustehen, einzufrieren: ein dreidimensionales Foto für das Poesiealbum der Naturgeschichte.

Natur im Museum, angestaubte Tierbälge, ein Gewirr von Vitrinen, Schaukästen und Tafeln. Präparatoren haben ihre Spuren hinterlassen. Je nach Mode und Stimmung formten sie den Charakter der Wildnis, präparierten hier ein heroisches Drama, dort ein leidenschaftsloses Stilleben. Die Zeugnisse der Naturgeschichte sind zugleich Zeugen der Naturbetrachtung. So manches Museum ist selbst schon museal, zum Künder einer längst vergangenen Naturphilosophie geworden.

Olivier Rieppel, der designierte Direktor des Stuttgarter Naturkundemuseums, schildert diese Geschichte der Naturbetrachtung: „Höhlenzeichnungen prähistorischer Zeiträume mögen in dem Bestreben entstanden sein, die Gefahr an die Wand zu bannen, die Natur ihrer Wildheit und Unbezähmbarkeit zu berauben. Eine andere Sicht der Dinge betont die Sehnsucht nach Schönheit und Harmonie. Das Spiel mit der Schönheit der Natur wurde zum Zeitvertreib jener Leute, die es sich leisten konnten, sich dem täglichen ,Kampf ums Dasein‘ zumindest teilweise zu entziehen, auch wenn sich in der Betrachtung der Natur wieder nur der Kampf ums Dasein spiegelte.“ Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance übten auf die Zeitgenossen einen ungeheuren Reiz aus. Die Naturaliensammlung Goethes gehört ebenso in diese Tradition des Beobachtens und Staunens wie die Schaustücke im Jahrmarktspanoptikum vergangener Zeiten.

Wer heute ins Museum geht, wird Zeuge der Wechselspiele einer schicksalhaften Beziehung: der Mensch und sein Bild von der Welt. Natur im Museum ist in den meisten Fällen Naturgeschichte, gewährt Einblicke in längst Vergangenes. Mit überladenen Vitrinen und lateinischem Vokabular aber wird so manchem Besucher der scheue Blick in ferne Erdzeitalter gründlich verleidet. Begehbare Lehrbücher lassen die Lust am Staunen vergessen, der Dschungel der Schautafeln entläßt den Besucher ebenso hilflos, wie er das museale Gefilde betrat. So suchen die Ausstellungsmacher nach neuen Konzepten. Die Inszenierung der Natur ist ein langwieriger Prozeß. Wissenschaftler, Pädagogen, Handwerker und Techniker haben ganz eigene Vorstellungen vom Notwendigen und Machbaren.

Die wissenschaftliche Konzeption gibt den Rahmen vor, sie bildet Grundgerüst und Fundament. Doch was so festgefügt erscheint, ist stetem Wandel unterworfen. Die Wissenschaft hat ihre eigene Geschichte. Die didaktische Konzeption muß diesen Wandel deutlich machen, die abschreckende Komplexität wissenschaftlicher Inhalte und Beziehungen zugänglich machen. Am Smithsonian Institute in Washington erfährt der Besucher, wie ein Objekt ins Museum kommt. Eine Präparationswerkstatt erlaubt den Blick hinter die Kulissen, macht den Weg eines Fossils vom Fundort bis in die Vitrine deutlich. Nach langer Vorbereitungszeit wurde 1985 die neugestaltete Paläontologie in Washington eröffnet. Designer, Texter, Wissenschaftler und Präparatoren hatten zehn Jahre lang an dem Konzept gearbeit.

Der Einblick in die wissenschaftliche Methodik aber reicht nicht aus. Der Besucher vor einem seltenen Schaustück in der Vitrine muß zwangsläufig ein falsches Bild vergangener Lebenswelten bekommen. Die museale Kostbarkeit läßt vergessen, daß prähistorische Lebewesen in grauer Vorzeit zu Abertausenden die Erde bevölkerten. Die Paläontologen am Hessischen Landesmuseum in Darmstadt wollen nach der demnächst anstehenden Wiedereröffnung ihrer Dauerausstellung eine ganze Herde eiszeitlicher Bisonschädel präsentieren und damit ein typisches Element klassischer Ausstellungsgestaltung konterkarieren: die Vereinzelung der Objekte. Bei der Vorstellung urzeitlicher Funde aus der Grube Messel, einem ehemaligen Tagebaugebiet in der Nähe von Darmstadt, verfolgen die Wissenschaftler ein ganz anderes Konzept. Wie kostbare Schmuckstücke werden die Fossilien in Szene gesetzt. So wird neben dem ästhetischen auch der wissenschaftliche Wert der Stücke betont – ein Museum, das Gegensätze vereint.

Die konkrete Umsetzung der Ideen ist wie kaum ein anderer Aspekt der Ausstellungsgestaltung von den zur Verfügung stehenden Mitteln abhängig. Welche Möglichkeiten ein Museum bieten kann, können die Darmstädter Paläontologen gleich ein Stockwerk über ihrer Schausammlung studieren. Dort hat Joseph Beuys seinen Darmstädter Block installiert. Die Entdeckungs- und Sammellust der Spätrenaissance, das Staunen greift Beuys wieder auf. Seine Objekte und Vitrinen bilden Stolperfallen und Gassen, der Betrachter als Flaneur hat hier keine Chance. Ein wesentliches Element im Umgang mit Wissenschaft und Kunst ist eben dieses Verharren und Hinsehen, das Begreifen, das vor dem Verstehen steht. Wie weit der Besucher aus seiner passiven Betrachterrolle befreit werden kann, ist jedoch oft schlicht eine Frage der Kosten. Modelle und Installationen erfordern Zeit und Geld. Ein Museum zum Anfassen benötigt mehr Pflege und Betreuung als sorgfältig verschlossene Vitrinen. Vor allem amerikanische Sammlungen haben gezeigt, daß sich solche Investitionen lohnen.

Natur als Wechselspiel der Beziehungen, als komplexes Gefüge von Organismus und Umwelt hat in den Labors der Forschungseinrichtungen keinen Platz mehr. „Die klassische Biologie wird in die Besenkammer der Universitätsinstitute verdrängt“, schimpft Olivier Rieppel. Bleibt das Museum als letzte Bastion des Staunens und Begreifens.